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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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jetzigen Problem in Zusammenhang stehen? Aber wie? Vielleicht würde man die Lösung erst mit dem Raum-VLBI finden, mit Parabolspiegeln auf Satelliten, wodurch ein Teleskop mit einem Durchmesser von hunderttausend Kilometern entstehen würde, aber das würde wohl noch zehn Jahre dauern, und bis dahin wäre er bereits pensioniert.
    Um ihn herum waren die Tische, Schränke und Regale genauso mit Bergen von Papieren überladen wie bei seinen Kollegen, allerdings mit dem Unterschied, daß bei ihm die Ordnung sofort sichtbar war. An einer Wand stand eine grüne Schultafel mit Formeln und Diagrammen in verschiedenen Kreidefarben, sie waren jedoch nicht kreuz und quer hingemalt in genialer Raserei und voller hastig weggewischter Flecken, sondern in einer harmonischen Gesamtkomposition wie ein Kunstwerk.
    Er legte die Papiere in eine Mappe, stützte den Kopf in die Hände und schaute aus dem offenen Fenster. Auf jeder Seite wurde seine Aussicht durch das riesige schwarze Stahlgeflecht eines Spiegels begrenzt. Die Spiegel wurden gerade geeicht. In der vollkommenen Stille hörte er mit kurzen Zwischenräumen das leise Summen des Mechanismus, mit dem die Achsendrehung der Erde ausgeglichen wurde, um das wahrgenommene Objekt zu halten. Was war das für eine finstere Ironie, daß unter dem ehemaligen Lager Westerbork Gas gewonnen wurde?
    Wurde die Wirklichkeit etwa von einem teuflischen Hirn gelenkt? Es dämmerte bereits, aber in der Ferne gingen noch immer Besucher über das Gelände – nicht um sich die Teleskope anzuschauen, sondern etwas, das nicht mehr da war. Hatten die unmittelbar Betroffenen noch abgewinkt und nichts mehr von dem Lager wissen wollen, so wurden in der jüngeren jüdischen Generation in letzter Zeit Stimmen laut, die es wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringen wollten. Der Schlagbaum stand bereits wieder an seinem alten Platz, und beim Prellbock war ein Wachturm restauriert worden. Es wurde sogar gefordert, die Sternwarte zu verlegen. Sollte das tatsächlich passieren, würde er sofort einen Leserbrief an das Nieuw Israelitisch Weekblad schicken und das Synthese-Radio-Teleskop lobend als »Judensternwarte« bezeichnen, die nur verschwinden dürfe, wenn nach der vollkommenen Restaurierung des Lagers Westerbork auch die dreiundneunzig Züge wieder am Boulevard des Misères auftauchen würden, um die Menschen aus dem Gas zurückzubringen.

49
Der Westerbork
    Max’ Verhältnis mit Tsjallingtsje hatte im Laufe der Jahre den ruhigeren Charakter einer Ehe angenommen. Wenn sie zum Orgasmus kam, rief sie immer noch »O Gott! O Gott!«, aber aus ihrer Wohnung hatte sie ausziehen müssen, die Buchhandlung, über der sie gewohnt hatte, war von einem großen Verlagskonzern übernommen worden, der ihre Räume für die Lagerung heruntergesetzter englischer Kunstbände benötigte.
    Max hatte dafür gesorgt, daß sie in ein rustikales, an ein Hexenhäuschen erinnerndes Haus am Dorfrand von Westerbork ziehen konnte, in dem ein verdruckster Elektrotechniker aus Dwingeloo bis zu seinem Ruhestand junge Bauernburschen empfangen hatte. Dabei hatte Max auch das Ende von Groot Rechteren im Kopf gehabt und den Zeitpunkt, an dem Quinten aus dem Haus gehen und sich seine und Sophias Wege trennen würden. Hinten in dem verwilderten Garten stand ein Holzschuppen, der die gesamte Breite des Grundstücks einnahm und eigentlich viel zu groß war für den Platz, aber er konnte ihn zu einem Studio für sich umbauen lassen; in letzter Zeit hatte er sich manchmal dorthin zurückgezogen, wenn er ungestört arbeiten wollte. Mit Tsjallingtsje hatte er nie über Zukunftspläne gesprochen, und sie hatte auch nie etwas in diese Richtung angedeutet, aber da sie von seinem Versprechen wußte, das Kind seines Freundes aufzuziehen, der seit vier Jahren verschwunden war, wußte sie natürlich auch, daß danach eine neue Situation entstehen würde.
    In Dwingeloo hatte sie von dem Reinfall mit dem VLBI gehört und vielleicht um ihn zu trösten den Tisch festlich gedeckt, in einem Kühler stand sogar Champagner. Sie trug einen grellroten Morgenmantel, der bis zum Boden reichte, wodurch sie noch größer wirkte, und obwohl sie gleich groß waren, umarmte sie ihn wie die Größere den Kleineren: sie mit den Armen um seinen Hals, er mit den Händen auf ihren hohen Hüften, was sofort eine Änderung seines chemischen Haushaltes zur Folge hatte.
    »Du weißt wenigstens, was einem enttäuschten Forschergeist guttut«, sagte er und zog sein Jackett aus.

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