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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ihm wenig zu sagen schien, bestätigte das nur, er hatte nicht einmal eine Stereoanlage in seinem Zimmer. Vielleicht ähnelte dieser unbegreifliche Junge überhaupt niemandem. Als das reglose, langsam eingehende Häufchen Elend im Krankenhausbett vor seinen Augen auftauchte, rieb er sich mit beiden Händen das Gesicht, als klebe das Bild auf der Haut. Er nahm einen Schluck und hatte das Gefühl, jetzt endlich imstande zu sein, der Existenz dieser lebenden Toten eigenhändig ein Ende zu machen. Aber wie? Mit einem Messer? Und warum nicht mit einem Messer? Warum, fragte er sich, würde sofort ein Aufschrei des Entsetzens durch die Welt gehen, wenn sich herausstellte, daß in irgendeinem Krankenhaus die todgeweihten Patienten im Keller mit einer Guillotine geköpft wurden?
    Oder in einem Hof mit einem Genickschuß? Nur weil das an Hinrichtungen erinnerte? Oder weil dadurch allzu deutlich würde, daß töten töten war und eben nicht etwas wie entschlafen‹? Vielleicht war letztlich alles eine Frage der Wörter? Die Deutsehen hatten den Massenmord an den Juden Endlösung genannt. Was war schöner als die Endlösung von etwas, das endgültige Ergebnis, die entscheidende restefreie Lösung? Es war fast so etwas wie die Theory of Everything der Physiker. Mit halbgeschlossenen Augen sah er das rostige Rot in seinem Glas und dachte an Onno. Darüber würde er jetzt gerne mit ihm reden, über die Sprache als Tarnung der Realität. Vermutlich würde er das als zu abgegriffen sofort von der Hand weisen und für pubertierende Jünglinge reservieren wollen, dann aber doch einige unerwartete Dinge zum besten geben. Wo war Onno? Was machte er in diesem Moment? Dachte er jetzt vielleicht auch an ihn? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatte er alle vollkommen aus seinem Gedächtnis verbannt – nicht nur ihn, sondern auch Quinten und Ada und Sophia. Vielleicht lebte er gar nicht mehr. Vielleicht war er irgendwo auf Kreta in eine Höhle gekrochen, wo man in fünfzig Jahren seine Knochen finden und sie zunächst für die des Schreibers des Diskos von Phaistos halten würde, bis man mit der C -Methode feststellte, daß es sich hier leider nur um einen niederländischen Politiker vermutlich kalvinistischer Herkunft handle.
    Tsjallingtsje hatte ohne Licht zu machen den Fernseher eingeschaltet, der Widerschein des Bildes flackerte durch das Zimmer, als ob es ständig kleine Explosionen gäbe. Er hatte das Gefühl, daß er sie jetzt eigentlich nicht allein lassen sollte, aber er wollte noch einen Moment nachdenken, oder besser: sich auf seinen Gedanken weitertreiben lassen wie auf einer Luftmatratze im Meer. Zu Hause saß jetzt auch Sophia allein in ihrem Zimmer und sicher auch Quinten in dem seinen, jeder saß allein in seinen vier Wänden. In letzter Zeit machte er sich manchmal Sorgen um Sophia: Sie saß oft stundenlang reglos in ihrem Stuhl, stierte vor sich hin und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Wenn er dann eine Bemerkung dazu machte, schreckte sie auf und sah ihn verwundert an.
    Von seinen Urlaubsreisen her erinnerte er sich an französische und italienische Familien, die abends an langen Tischen unter würdigen, verwachsenen Olivenbäumen zusammensaßen und selbst wie Bäume waren, mit steinalten Urgroßvätern und Urgroßmüttern und all ihren Verzweigungen und Verästelungen, den Kindern, Enkeln, Urenkeln, Neffen, Nichten und unzähligem, angeheiratetem Volk, bis hin zu den Säuglingen an der Brust, die Tische über und über beladen mit Speisen und Wein: das alles kannte er nicht. Nur in Onnos Verwandtschaft gab es das, wenn auch in kleinerem holländischem Rahmen. Aber diese Urlaubsreisen lagen lange zurück, in Zeiten des verhängnisvollen Sportwagens. Seit er mit Quinten und Sophia auf dem Schloß lebte, waren sie selten ins Ausland gefahren, alle paar Jahre einmal nach Südfrankreich oder Spanien, aus einer Laune heraus, wenn das Wetter Anlaß dazu gab. Schöner als auf Groot Rechteren konnte es ohnehin nirgends sein. Er selbst hatte kein Bedürfnis mehr zu reisen, jedes Jahr mußte er einige Male zu einer Konferenz irgendwo auf der Welt und freute sich jedesmal, wenn er wieder zu Hause war. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, daß er nie bis zur Spitze der internationalen Astronomenszene hatte vordringen können. Er kannte zwar jeden, und jeder kannte ihn und schätzte seine Arbeit, aber während des offiziellen Abschlußdiners saß er dennoch nie an dem runden VIP-Tisch beim Bürgermeister oder

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