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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Minister wie sein Kollege Maarten Schmidt von CalTech.
    Während er sich wieder einschenkte und ein Auge zukniff, um nicht das Glas zu füllen, das gar nicht dastand, dachte er an seine erste Fahrt in den Süden, einige Jahre nach dem Krieg. Der überwältigende Eindruck, den das Licht dort auf ihn gemacht hatte, und die Farbe des Mittelmeeres, die er später im Blau von Quintens Augen wiederfand! In seinem Studentenzimmer in Leiden hatte er diese Farben manchmal kurz nach dem Aufwachen, aber noch bevor er die Augen öffnete, gesehen, aber sobald er sie aufschlug, waren sie von einem grauen holländischen Morgen verschluckt worden. Als er zum zweiten Mal an der Riviera war, hatte er sich etwas ausgedacht, um diesen Schock wiedergutzumachen. Beim Aufwachen dort stellte er sich mit geschlossenen Augen vor, wieder in dem verregneten Leiden zu sein, wo seine Erinnerung an das mediterrane Bild mit dem allerersten Blick vernichtet werden würde. Wenn er sie dann aber tatsächlich öffnete, war es wirklich da! Das Meer aus Lapislazuli: ein glückseliges Wunder! Unmittelbare Bewegung, schneller als Licht! Das Meer –. Nachts war das Meer schwarz – aber daran wollte er jetzt nicht denken. Wie hieß sie noch? Marilyn. Ihre Maschinenpistole. Gott und die Erfindung der Zentralperspektive; der Fluchtpunkt, durch den seit dem fünfzehnten Jahrhundert nichts mehr hindurchkam, weder von der einen noch von der anderen Seite. Sie mußte jetzt um die Vierzig sein und war mit Sicherheit schon längst wieder in den Vereinigten Staaten, irgendwo in einem Provinznest, wo sie als Kunstgeschichtslehrerin und Mutter dreier Kinder lebte und mit einem Anwalt verheiratet war, den der Schlag treffen würde, wenn er etwas über ihre revolutionäre Vergangenheit erführe.
    Plötzlich kam ihm in einer noch ferneren Vergangenheit das Schlafzimmer seiner Mutter in den Sinn: die offenen Schubladen und Schränke, ihre Kleider in einem Haufen auf dem Boden. Es würde nie aufh ören. Wie Onno immer sagte: Verwandtschaft währt am längsten. Tsjallingtsje wußte nichts von alldem, vielleicht wäre es an der Zeit, ihr langsam etwas über den Großvater und die Großmutter ihres Kindes, das sie von ihm haben wollte, zu erzählen. Wie sollte es überhaupt heißen? Octave? Octavia? Nach Onnos Eins-zu-zwei-Theorie des einfachsten konsonanten Intervalls? Das Geschlecht schien man ja heutzutage bereits während der Schwangerschaft mit Ultraschallecho feststellen zu können, und das mit einem ganz ähnlichen Prinzip, das Quinten für sein Historioskop benötigte. Es würde natürlich ein Mädchen, da war er sich ganz sicher. Er sah durch die offene Tür zum Haus. Der Fernseher lief nicht mehr, und oben im Schlafzimmer brannte Licht. Sie las wohl noch, Die Brüder Karamasow , die er ihr verordnet hatte, und wartete auf ihn. Langsam sank sein Kopf vornüber, und seine Augenlider schlossen sich kurz. Mit einem Ruck kam er wieder zu sich und seufzte einige Male tief.
    Er schenkte sich nach, lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Rückenlehne und schaute durch den Schuppen hinaus. Es kam ihm vor, als spüre er sein Leben wie ein großes Ding, um das er seine Arme legen konnte wie um einen viel zu großen Hund auf dem Schoß. Alles nahm ständig zu, alles wurde immer komplizierter, war wie eine Eichel, die einen winzigen symmetrischen Keimling austrieb, der zu einer knorrigen Eiche heranwuchs, die in nichts an ihren fast geometrischen Ursprung erinnerte. Obwohl sie doch diesen Ursprung, diese Form gehabt hatte. Wie konnte das eine in das andere übergegangen sein? Und wenn das nicht zu erklären war, wie konnte dieser Übergang dann überhaupt stattgefunden haben? Die Probleme, überlegte er, lagen nicht in dem, was geschah, denn das war einfach das, was eben geschah, sondern in dem, wie dieses Geschehen denkbar war. Das Weltall war aus einem homogenen Ursprung entstanden – wie konnte es dann jetzt so aussehen, wie es aussah, mit einer Verteilung der Sternensysteme, die so war, wie sie war, und nicht anders? Warum war nicht alles homogen geblieben? Warum war die Erde anders als die Sonne? Und die Sonne anders als ein Quasar? Wie konnte hier ein Stuhl stehen und dort eine Harke liegen? Wie konnte er selbst existieren und anders sein als Onno? Wie konnte er jetzt etwas anderes denken als vorhin, und nachher wieder etwas anderes als jetzt? Was war unterdessen passiert? Oder war der Ursprung vielleicht doch nicht homogen gewesen? Natürlich kannte er die Theorien über

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