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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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empfangen, die von der anderen Seite her diesen Fluchtpunkt durchquert hatten – oder besser: den Erscheinungspunkt!
    Auch schwarze Löcher, aus denen theoretisch keine Information dringen konnte, erwiesen sich bei näherem Hinsehen als durchlässig wie ein Sieb. In einer negativen Raum-Zeit waren plötzlich all diese Unendlichkeiten, auf die die Theoretiker in hren mathematischen Beschreibungen ständig stießen, sichtbar geworden. In weniger als einer 10–43stel Sekunde nach dem Moment 0, der Planckzeit, war das hypermikroskopische All ein theoretisches Irrenhaus; für den Moment Zero ergaben die Berechnungen ein paradoxes All mit einem Umfang von Null, einen mathematischen Punkt also, und zugleich mit einer unendlichen Dichte, einer unendlichen Krümmung der Raum-Zeit und unendlich hoher Temperatur. Dort brachen sowohl die allgemeine Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie zusammen. Alle waren sich darüber einig, daß eine neue, übergreifende Theorie nötig war, um weiter darüber reden zu können; das Auftauchen von Unendlichkeiten wurde immer schon als Zeichen dafür gewertet, daß theoretisch irgend etwas grundsätzlich nicht stimmte, aber es gab sie, diese Theorie, tatsächlich, und vor vierundzwanzig Stunden war sie wahrgenommen worden! Nur dachte keiner daran, die Phänomene so zu interpretieren: die gesamte Kosmologie war das Opfer einer Sinnestäuschung! Und es wäre doch absurd, wenn der Anfang des Alls nicht mit Unendlichkeiten einherginge. Wenn etwas aus nichts entstand, so war das doch eine vollkommen andere Sache, als wenn etwas aus etwas anderem entstand – das Unbegreifliche war doch gerade die Essenz der Tatsache, daß die Welt existierte, und nicht, daß sie nicht existierte! Er richtete sich auf. Und jetzt schlafen, und morgen sofort alles ausarbeiten und veröffentlichen, ehe ein anderer dieselbe Idee haben würde.
    Statt aufzustehen hielt er die Flasche noch einmal über das Glas. Da nichts mehr herauskam, wollte er sie irgendwo abstellen, aber sie fiel ihm aus der Hand. Er streckte den Arm aus, um sie zu fassen, aber weiter kam er nicht. Das Kinn sank ihm auf die Brust. Dann schoß ihm durch den Kopf, daß seit einigen Monaten eine neue physikalische Theorie für Aufregung sorgte, die möglicherweise Quantentheorie und Relativitätstheorie miteinander versöhnen würde: die große Unifikation – die lang gesuchte Theorie von allem! Im Sommer würde zu diesem Thema in Bari eine große Konferenz stattfinden – sollte er da nicht hingehen? Bisher hatten Elementarteilchen wie Elektronen immer als punktförmig gegolten, null-dimensional, was bedeutete, daß ihre Energie und damit auch die Masse in diesem Punkt unendlich groß waren, merkwürdigerweise jedoch hatte sich niemand je sonderlich um diese Unendlichkeiten gekümmert, doch mittlerweile wunderte er sich nicht mehr über solche Inkonsequenzen: in der Wissenschaft war es nicht anders als in der Politik. Die neue Theorie ging davon aus, daß Elementarteilchen nicht null-, sondern eindimensional seien: superkleine Saiten in einer zehn-dimensionalen Welt. Nicht nur die Teilchen, auch die vier fundamentalen Grundkräfte und siebzehn Naturkonstanten könnten aus dem Schwingungszustand von ansonsten völlig identischen Saiten abgeleitet werden. Saiten! Das Monochord!
    Pythagoras! Kam die Wissenschaft wieder dahin, wo sie begonnen hatte? War das Wesen der Welt die Musik? Adas Bild erschien vor seinen Augen, das Cello zwischen den gespreizten Beinen. »Das Wesen aller Dinge sind Zahlen«, hatte Pythagoras gesagt. Die Zehn war für ihn die heilige Zahl, nachzählbar an den eigenen Fingern, ebenso wie die Zehn Gebote und die zehn Dimensionen der Supersaitentheorie. Die Zehn war »die Mutter des Universums«, und er erinnerte sich an etwas, das er als Junge gelesen hatte: an Pythagoras’ mystische Tetractys, die Vierfältigkeit, die symbolische Abbildung des Spruchs »Eins, zwei, drei, vier«, mit dem seine Jünger ihren Eid ablegten:
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    Als rechtschaffener Grieche, dachte Max, wollte Pythagoras natürlich nichts von vollendeten Unendlichkeiten wissen, obwohl er mit seinem berühmten Satz auf die irrationalen Zahlen gestoßen war, aber er, Max, brauchte sie jetzt, um die Werte des VLBI zu interpretieren, und das hieß, die Entstehung der Welt. Der Big Bang als unendliche Musik! Plötzlich hob er den Kopf und öffnete kurz

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