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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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machtloser Raserei auf die Lebenden beschränkt sieht. Die Frauen aus der Vergangenheit sind an Ihrer außergewöhnlichen Nase bereits vorbeigegangen, und die in der Zukunft werden Ihnen ebenfalls vorenthalten bleiben. Am liebsten würden Sie alle Frauen in Raum und Zeit auf einen Schlag besitzen, in Gestalt der Frau der Frauen: der Urfrau. Trifft es zu, wenn ich davon ausgehe, mein Lieber, daß der Vorname Ihrer Frau Mutter Eva ist?«
    »Donnerwetter!« lachte Max. »Das hat gesessen. Jetzt verstehe ich, warum mir mein Nervenarzt geraten hat, Sie zu konsultieren.« Er hatte Onno den Namen seiner Mutter einmal gesagt, aber diese Wendung versetzte ihm doch einen leichten Schock.
    »Ich kann in Sie hineinschauen, Herr Generalkapellmeister.«
    »Aber wenn Eva also meine Mutter ist, verehrter Herr Doktor, bin ich dann Kain oder Abel?«
    Jetzt schien Onno kurz aus dem Konzept, aber es dauerte nicht lange, und er blieb stehen und rief:
    »Der Herr wird dein Opfer nicht anerkennen, siebenfach Verfluchter! Nur das meine wird anerkannt werden!«
    Während er das sagte, mit dem Aplomb, deren Geheimnis nur er besaß, fiel Max’ Auge auf einen Buchumschlag im Schaufenster eines Antiquariats. Sie standen in einer schmalen Straße hinter der Pieterskerk, die als die Jungfrau über die niedrigen Häuser der Altstadt hinausragte.
    »Da schau her. Wenn man vom Teufel spricht, ist er nicht weit.« Er zeigte auf ein Exemplar von Alma Mahlers Mein Leben. »Komm«, sagte er und legte seine Hand auf die Türklinke, »das schenke ich dir. Als Honorar für deine Analyse.«

    In einer Welt, die voll ist mit Krieg, Hungersnot, Unterdrückung, Betrug und Langeweile – was ist in dieser Welt, abgesehen von der ewigen Unschuld der Tiere, ein Bild der Hoffnung? Eine Mutter mit einem Neugeborenen im Arm? Aber das Kind endet vielleicht als Mörder oder als Ermordeter, so daß das Bild nur eine Vorwegprojektion einer pietà war: eine Mutter mit ihrem gerade gestorbenen Kind im Arm. Nein, das Bild der Hoffnung ist jemand, der mit einem Musikinstrument in einem Futteral vorbeikommt. Es trägt nicht zur Unterdrückung bei, und auch nicht zur Befreiung, sondern zu etwas, das tiefer liegt. Der Junge auf seinem Fahrrad, mit einer Gitarre in ausgebleichtem Kunstleder auf dem Rücken, das Mädchen, das mit einem zerschrammten Geigenkasten auf die Straßenbahn wartet. Die heiligen Hallen unter den Konzertbühnen, wo die Orchestermusiker auf Tischen und Stühlen und auf dem Boden ihre Futterale und Kästen öffnen und ihre glänzenden und blinkenden Instrumente herausnehmen und die Hohlformen dieser Instrumente zurückbleiben: ›negative‹ Klarinetten, Querflöten und Fagotte mit ihren Mund- und Zwischenstücken, ausgespart in weichem, ausgeformtem Samt; der Raum füllt sich allmählich mit der gedämpften Kakophonie der Instrumente, die sich um das a bewegt wie Spatzen und Möwen und Stare und Drosseln um ein Stück Brot, und die Deckel der mannshohen Behausungen der Kontrabässe stehen offen wie Türen zu einer anderen Welt …
    Oder die junge Frau, die nach der Probe ihr Cello in den Kasten bettet und den Deckel schließt?
    Sie nimmt die auseinandergefallene Partitur vom Notenständer und ordnet die Blätter, bis die Titelseite ordentlich obenauf liegt: Pohádka. Festes, fast japanisch schwarzes Haar mit einem Pony rahmt ihr blasses Gesicht in einem Viereck ein; seidig glänzend folgt es jeder Bewegung ihres Kopfes, um immer wieder in der geometrischen Ordnung des Vierecks zur Ruhe zu kommen. Ihr Gesicht ist unbewegt, die Lippen leicht zusammengekniffen wie bei jemandem, der weiß, was er will. Ihr Begleiter, ein untersetzter Mann mit dünnem, rötlichblondem Haar und einem ausdruckslosen Gesicht, sitzt vornübergebeugt, seine Arme auf dem Flügel gekreuzt und das Kinn in die Hand gestützt, und sieht zu ihren tiefb raunen Augen unter den dunklen, scharf gezeichneten Augenbrauen auf.
    »Woran denkst du, Ada?«
    Sein Studio, ein großer, rechteckiger Raum in einem ehemaligen Schulgebäude, ist voll mit Sammlerstücken: ein altes Koffergrammophon neben dem anderen auf einem Bord an der Wand, daneben verstaubte Trompeten, Geigen und andere Musikinstrumente, überladene Bücherregale, schwere Tische vom Flohmarkt mit Partituren alter Kammermusik, Reihen von 78er-Platten in beschädigten Papierhüllen, verschlissene Perserteppiche und einige große braune Ledersessel, um darin ein Buch zur Hand zu nehmen und nichts mehr mit der Außenwelt zu tun zu

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