Die Entdeckung des Himmels
das sei alles in der Bibel präzise nachzulesen. Auf der goldenen Deckplatte waren zwei goldene Engel mit gespreizten Flügeln, das Gesicht einander zugewandt. An den Seiten befanden sich goldene Ringe, durch die zwei Stöcke geschoben werden konnten, um die Kiste mitzuführen. Einige Jahrhunderte später, etwa tausend vor Christus, baute König Salomo nach dem Prinzip dieses Zeltes seinen Tempel in Jerusalem. Im Allerheiligsten dieses Tempels wurde die Lade von zwei riesigen Engeln von je fünf Metern Höhe flankiert, die auch wieder gespreizte Flügel hatten.
»Und wo sind die beiden ersten Engel geblieben?«
»Das weiß ich nicht, Quinten«, sagte Onno und seufzte wieder. »Hör doch erst mal zu. Der Tempels Salomos wurde von Nebukadnezar zerstört, und seitdem ist die Lade verschwunden. Im sechsten Jahrhundert vor Christus wurde an derselben Stelle ein zweiter Tempel errichtet, von Zerubbabel, diesmal ohne Lade. Das Gebäude verfiel, Herodes ließ es abreißen und baute einen dritten Tempel. Die jüdische Überlieferung macht übrigens keinen Unterschied zwischen dem zweiten und dem dritten, da die Rabbiner Herodes die Ehre nicht gönnen, weil er mit den Römern kollaborierte. Für sie ist der dritte Tempel immer noch der zweite, den Herodes lediglich umgebaut und vergrößert hat. Aber dieser Tempel hat nur wenige Jahre bestanden: er wurde von Titus zerstört, wie du weißt. Aus Augenzeugenberichten wird deutlich, daß das Allerheiligste auch da wieder leer war.«
»Das kann nicht stimmen«, sagte Quinten und zeigte mit dem Finger auf die beiden kleinen Altäre, hinter denen sich das Sancta Sanctorum befand, »denn die Bundeslade befindet sich da drinnen.«
Sprachlos sah Onno ihn einige Sekunden lang an.
»Das höre ich gerne!« lachte er dann. »Generationen von Theologen, Rabbinern, Historikern und Archäologen haben festgestellt, daß die Lade seit der babylonischen Verbannung verschwunden ist, aber Herr Professor Doktor Doktor Q. Quist weiß es besser. Hör mal zu! Ich finde es zwar auch merkwürdig, daß diese Kapelle Sancta Sanctorum heißt, aber vielleicht sollten wir das doch nicht allzu wörtlich nehmen.«
»Die Kapelle heißt nicht nur so, es steht auch drauf, daß es auf der ganzen Welt keinen heiligeren Ort gibt. Daran gibt es nichts zu deuteln.«
»Stimmt alles. Aber wie erklärst du dir dann, daß auf dem Titusbogen zwar der Leuchter und der Tisch der Schaubrote zu sehen sind, nicht aber die Lade? Wenn Titus auch die mitgenommen hätte, dann wäre sie doch wohl zuallererst abgebildet worden!«
»Dafür kann es doch einen Grund geben.«
»Und der wäre?«
Quinten zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht. Vielleicht hatten Titus und Vespasian trotz allem ein ungutes Gefühl bei diesem Gott der Juden, und es erschien ihnen sicherer, nicht soviel Aufhebens um die Lade zu machen.«
»An sich keine dumme Idee«, sagte Onno mit einer kurzen Kopfbewegung. »Uns fällt es schwer, uns das vorzustellen, weil wir die Erben dieses jüdischen Monotheismus sind, der nur einen Gott anerkennt und daneben keinen anderen; das ist sogar der Inhalt des ersten Gebots. Aber wenn die Römer einen Feind besiegten, nahmen sie nicht nur dessen Soldaten gefangen, sondern verleibten ihrem Pantheon auch deren Götter ein. Aber einmal angenommen, daß es stimmt, was du sagst, wie ging es dann weiter?«
»Na, das ist ja wohl klar«, sagte Quinten. »Titus hat die Lade mitgenommen, sie aber bei dem Umzug nicht gezeigt. Vespasian hat sie dann im kaiserlichen Palast versteckt, und Konstantin hat sie später heimlich den Päpsten übergeben. Die haben sie dann hier nebenan irgendwo hinter den Gittern versteckt. Das ist der eigentliche Grund, warum die Kapelle beim Abriß des Lateran verschont geblieben ist.«
»Nicht schlecht«, nickte Onno. »Aber der Architekt, Domenico Fontana, muß demnach im Bilde gewesen sein, sonst hätte er mit diesem Gebäude nicht den Tempel zitiert, besonders mit der Scala Santa. Nein, er selbst hatte wahrscheinlich keine Ahnung, dafür aber mit Sicherheit sein Auftraggeber, Sixtus V«
»Offenbar.«
»Aber war das nicht reichlich riskant, zusammen mit dem Namen der Kapelle und der Inschrift? Warum hat das noch nie jemanden auf die Idee gebracht, daß die Bundeslade hier ist?«
»Hast du schon einmal etwas in dieser Richtung gehört?«
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Onno und schwieg eine Weile.
»Es stimmt schon, manche Dinge sind so selbstverständlich, daß man fast nicht glauben
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