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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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befand, die nach San Silvestro benannt war, setzten sie sich in eine der dunkelbraunen Chorbänke, die an drei Wänden aufgestellt waren. Onno sah, daß Quinten es kaum erwarten konnte zu erfahren, was er zu sagen hatte; sein sonst so sanftes Gesicht war gespannt. Er begriff nicht, was in dem Jungen vorging, und es beunruhigte ihn. Vielleicht hätte er seine Bemerkung besser für sich behalten.
    »Was hast du plötzlich, Quinten?«
    »Erzähl!«
    Onno wunderte sich, daß jemand so gar nichts darüber wußte, und erklärte ihm, im jüdischen Ritus sei das Allerheiligste ein Raum im ehemaligen Tempel von Jerusalem.
    Ein rechteckiger Komplex, der aus drei Teilen bestehe – oder eigentlich aus vier. Zuerst komme der Vorhof, den Heiden nicht betreten durften, nur Juden, das heißt, jüdische Männer. Dort stand der Brandopferaltar. Der Zugang zum eigentlichen Tempelgebäude wurde von zwei Säulen flankiert: Jachin und Boas.
    Rechteckig? Wie das Bett seiner Mutter? Hatte er sich darüber nicht schon einmal mit Herrn Themaat unterhalten?
    »Pfeiler mit Namen?« fragte er, während er kurz an die beiden Säulen auf der Piazza in Venedig denken mußte. »Warum?«
    Onno seufzte.
    »Ich wundere mich ja manchmal selbst über mein Wissen, aber ich weiß leider immer noch nicht alles. Aber zumindest weiß ich, wo man alles nachschlagen kann, und das ist eine sehr brauchbare Alternative zur Allwissenheit. Wenn man hineinging«, fuhr er fort und ging nicht näher auf die Pfeiler ein, »kam man durch ein Portal in das dämmrige Heilige. Vorausgesetzt, man war ein Priester, denn sonst hatte man keinen Zugang. In diesem heiligen Bereich standen der Brandopferaltar, der siebenarmige Leuchter und der Tisch mit den Schaubroten. Der hintere Raum, vor dem ein großer Vorhang hing, hatte die Form eines Würfels. Dort war es immer vollkommen dunkel, und dort war das Allerheiligste.
    Nur der Hohepriester durfte einmal im Jahr hinein, am Versöhnungstag.«
    Aufgeregt streckte sich Quinten.
    »Das ist fast wie hier! Draußen auf dem Platz steht der Obelisk von Thutmoses, das ist der Vorhof, dann kommt ein Portal, dann die Heilige Treppe, das ist dann das Heilige, und dann das Sancta Sanctorum! Es ist zwar kein Würfel, dafür aber immerhin quadratisch.«
    »Aber das ist genau das Merkwürdige daran«, sagte Onno und verzog sein Gesicht. »Im Christentum ist das Allerheiligste nie etwas Architektonisches wie bei den Juden und wird nur symbolisch verwendet. In den Evangelien steht, der Vorhang im Tempel sei zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten in dem Augenblick zerrissen, als Jesus starb – ›aufspaltete‹ steht dort eigentlich auf griechisch –, und das wurde dann so interpretiert, daß Christus durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung das Allerheiligste, das heißt, den Himmel, für alle zugänglich gemacht hat, wie eine Art Megahoherpriester. Bei den Christen ist das Allerheiligste nie ein irdisches Gebäude.«
    »Und in diesem jüdischen Allerheiligsten, was stand da?«
    »Die Bundeslade.«
    Ein vorbeischlurfender Pater warf einen kurzen Blick auf sie, legte einen Finger auf die Lippen und verschwand durch eine kleine Tür zwischen dem Chorgestühl.
    »Was war das für ein Ding?« fragte Quinten leise.
    Mit einem Seufzer sah Onno ihn an.
    »Einerseits finde ich es schrecklich, wenn die Jugend von heute fast überhaupt nichts mehr weiß, andererseits aber preise ich euch glücklich, daß ihr den ganzen Ballast nicht mehr mit euch herumschleppen müßt. Aber Blut ist offenbar doch dicker als Wasser. Die Bundeslade war eine goldene Kiste, das Allerheiligste, das die Juden hatten: so etwas wie der Thron des Jahwe. In gewisser Weise war dieser Thron sogar Jahwe selbst.«
    »Aber gestern hast du doch noch gesagt, dieser Leuchter sei der heiligste Gegenstand der Juden.«
    »Zur Zeit Vespasians und Titus’ war das auch so. Aber ich sollte es dir wohl besser gleich ganz erklären.«
    Onno hob einen Finger der Linken und drei seiner Rechten und sagte, Quinten müsse vier Dinge unterscheiden: die Stiftshütte und die drei aufeinander folgenden Tempel in Jerusalem. Als Moses in der Wüste die Zehn Gebote bekam, gab Jahwe ihm auch den Auftrag, die Stiftshütte zu bauen, und zwar nach genauen Maßen. Das war damals zwar nur ein zerlegbares Zelt, das sie mitnehmen konnten auf ihrem Weg, aber es bestand bereits aus einem Vorhof, einem Heiligen und einem Allerheiligsten. Auch wie die Bundeslade aussehen sollte, erfuhr Moses ganz genau;

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