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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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kann, warum nicht schon eher jemand draufgekommen ist. Jahrhundertelang hat man angenommen, die Ilias sei ein Mythos; aber Schliemann fing mit Homer in der Hand einfach an zu graben, und prompt fand er Helenas Troja. Der war offenbar auch so einer wie du. Wenn wir nur schon dieses Historioskop hätten, dann könnten wir einfach kurz in der Vergangenheit nachsehen.« Amüsiert sah er Quinten an. »Hast du eigentlich eine Ahnung, was das heißen würde, wenn das, was du sagst, stimmt?«
    »Inwiefern?«
    Onno wandte sich ihm zu. »Die Bundeslade , Quinten! Die ganze Welt würde kopfstehen, wenn plötzlich herauskäme, daß sie noch existiert und hier in Rom ist. Das könnte sogar ziemlich merkwürdige Konsequenzen haben.«
    Doch dieser Aspekt interessierte Quinten nicht. In Gedanken versunken starrte er auf die Wand, hinter der das Sancta Sanctorum lag, und fragte:
    »Wie groß war sie?«
    »Es tut mir leid, aber das weiß ich nicht auswendig. Moses hat sich auf dem Horeb Hunderte von Maßen und Vorschriften gemerkt, ohne sie zu notieren, aber so ein Gedächtnis habe nicht einmal ich.«
    »Aber wir können es herausfinden.«
    »Natürlich, man kann immer alles herausfinden. Es steht alles in der Thora.«
    »In der was?«
    »In der Thora. Dem Gesetz. Dem Pentateuch, auf griechisch.
    Die ersten fünf Bibelbücher, die Moses geschrieben haben soll: Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium. Ich kann das alles noch herunterleiern, aber du Schlaumeier hast natürlich nie davon gehört.«
    »Von der Genesis schon«, sagte Quinten und stand auf. »Wir müssen also versuchen, an eine Bibel zu kommen.«
    »Das dürfte in Rom wohl nicht so schwer sein.«
    »Sollen wir mal schauen, ob wir um das Sancta Sanctorum herumgehen können?«
    Die mittelalterliche Kapelle lag tatsächlich im Zentrum des Renaissancegebäudes wie ein Reaktorkern im Reaktor. Auch auf der Rückseite befand sich ein geweihter Raum, auf der rechten Seite lag die Kapelle von San Lorenzo. Als sie dort ankamen, blieb Quinten wie vom Blitz getroffen stehen und starrte auf eine Tür, die auch ihn anzustarren schien.
    Die Mitte der Welt! Eine doppelte Bronzetür aus dem vierten Jahrhundert, die zum Sancta Sanctorum führen mußte.
    Auf den beiden oberen Kassetten waren runde Ornamente, die aussahen wie eine Iris mit Pupille. Die Türflügel waren mit zwei schweren, übereinanderliegenden Schlössern gesichert, die so groß waren wie das Schloß am Altar und zusammen aussahen wie Nase und Mund. Der breite, marmorne Türrahmen wurde von zwei kurzen Pilastern gekrönt, die einen Tympanon trugen; in dem Feld darunter stand:
    S I X T V S •V•
P O N T•M A X
    Daß ›Pont. Max.‹ die Abkürzung für Pontifex maximus war, den päpstlichen Titel ›Großer Brückenbauer‹, wußte Quinten, las aber dennoch erschrocken Max’ Namen, der hier plötzlich über dem bronzenen Gesicht erschien, das er aus seiner Burg kannte. Er erwiderte den vertrauten Blick der Tür und war nun ganz ruhig.
    Plötzlich drehte er sich zu Onno.
    »Was war eigentlich drin?«
    »Wo drin?«
    »In dieser Bundeslade.«
    »Die beiden Gesetzestafeln von Moses mit den Zehn Geboten.«
    Am nächsten Morgen nahmen sie den Bus zur Via Omero, wo sich das Instituto Storico Olandese befand. Zunächst hatte Onno gezögert, dorthin zu gehen, vielleicht würde er einen Namen angeben müssen, oder man würde ihn erkennen; immerhin hatte er damals die Subventionen des Instituts gekürzt, um Geld für Max’ dreizehnten und vierzehnten Spiegel lockerzumachen. Andererseits wußte er, daß ein Staatssekretär nicht erst nach Jahren, sondern oft schon während seiner Amtszeit in Vergessenheit geriet. Wer einmal Staatssekretär oder sogar Minister war, der wähnte sich und seine Familie für alle Ewigkeit in der Unsterblichkeit, aber alle anderen dachten in der Regel anders. Und vielleicht war das auch gut so; weil sich alles immer wiederholte, wäre die Politik ohne das schlechte Gedächtnis der Menschheit gar nicht möglich.
    Abgesehen davon hatte er inzwischen keine so große Angst mehr davor, erkannt zu werden.
    Im stillen Lesesaal, wo einige Studenten über ihre Unterlagen gebeugt saßen, ging Onno zur Bibliothekarin, einer außergewöhnlich kleinen, gesetzten Dame, die mit einem Bleistift zwischen den Zähnen auf Zehenspitzen vor einer Kartei stand. Er mußte das Bild von Helga mit Gewalt verdrängen, bevor er sie fragen konnte, ob sie eine niederländische Ausgabe der Bibel zur Einsicht habe.
    Sie warf

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