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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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sein Fleisch‹. Das ist nicht von Pappe. Und hier geht es um das ›wahre Zelt, das der Herr selbst aufgeschlagen hat, nicht etwa der Mensch‹. Wenn du mich fragst, ist das alles auch ein Verbot, jemals noch mit Menschenhänden ein irdisches Allerheiligstes zu bauen.«
    »Obwohl es trotzdem«, sagte Quinten, »ein christliches Gebäude gibt, das Sancta Sanctorum heißt und der heiligste Ort auf Erden ist.«
    »Genau das meine ich.«
    »Also ist es vielleicht gar nicht so christlich. Das heißt, zwar christlich, aber zugleich auch wieder nicht christlich.«
    Onno nickte.
    »Ich habe deinen Standpunkt begriffen, aber was folgt daraus?«
    Quinten zeigte auf die Bibel.
    »Schau mal bei der Bundeslade nach. Ich möchte wissen, wie groß sie war.«
    Onno schlug das Buch Exodus auf und brauchte nicht lange zu suchen. Ihm war, als hätte er beim Anblick all der Namen und Wendungen wieder den Geruch seines Elternhauses in der Nase.
    »Zweieinhalb Ellen lang, anderthalb Ellen breit und anderthalb Ellen hoch.«
    »Wie groß ist eine Elle?«
    »Vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers, also rund fünfzig Zentimeter.«
    »Also einen Meter fünfzig lang, fünfundsiebzig Zentimeter breit und fünfundsiebzig Zentimeter hoch.«
    »Das dürfte in etwa hinkommen.«
    Quinten schaute durch den hügeligen Park, aber was er wirklich sah, war das schwere Hängeschloß.
    »Wenn du mich fragst, ist das auch die Abmessung des Altars im Sancta Sanctorum.«
    »Ich hoffe«, lachte Onno, »daß er ein bißchen größer ist, denn sonst paßt die Lade nicht hinein.«
    »Warum lachst du jetzt?«
    »Weil immer alles stimmt – wenn du nur willst. Erinnerst du dich noch an den komischen Proctor auf dem Schloß?
    Schau, ich habe eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Knöpfe an meinem Hemd; der obere ist offen. Das stimmt also mit den sechs Schöpfungstagen und dem Sabbat überein.«
    »Aber etwas kann doch auch mal wirklich stimmen?«
    »Natürlich.«
    »Warum sonst befinden sich so dicke Gitter vor dem Altar? Und auf dem Baldachin darüber die beiden Engel mit gespreizten Flügeln? Wir sind etwas auf der Spur, Papa! Non est in toto sanctior orbe locus – das könnte doch auch im Tempel von Jerusalem gestanden haben?«
    Onno schlug die Bibel zu, sah Quinten ernst an und machte eine unbestimmte Geste.
    »Ja.«
    »Na bitte! Ich muß wissen, was da los ist.«
    »Warum denn das nun wieder, Quinten?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Quinten mit Ungeduld in der Stimme und dachte an die Mitte der Welt.

57
Entdeckungen
    Die Herkunft der Leidenschaft, die Quinten gepackt hatte, war Onno ein Rätsel. Max und Sophia hatten den Jungen agnostisch erzogen, er kannte die Bibel kaum, und Religionen hatten ihn vermutlich nie interessiert. Wenn es nun eine Art von Theomanie wäre, hätte er das noch verstanden, aber damit hatte es offenbar nichts zu tun. Daß sich die Bundeslade im Sancta Sanctorum befinden sollte, war ein absoluter Unfug – Quintens Argumentation hatte die Leidenschaft der Jugend und die Schönheit der Einfalt für sich, er selbst kannte die Fallgruben dieser einfachen Schlußfolgerungen nur allzugut. Denn immer tauchte etwas auf, das die schöne Einfalt plötzlich in ein entmutigendes Chaos verwandelte, in dem nur mit größter Mühe wieder eine Ordnung zu entdecken war, die sich dann immer als viel komplizierter entpuppte. Aber daß er Quintens Theorie für Quatsch hielt, brauchte ihn ja nicht davon abzuhalten, sich einige Tage in die Literatur zu vertiefen – oder vielleicht war es gerade die offensichtliche Unsinnigkeit des Projektes, die ihn reizte: In einer unsinnigen Welt machte nur das Unsinnige Sinn, wie er in dem Brief an seinen Vater geschrieben hatte.
    Da die meisten Bücher, die er zu Rate ziehen mußte, auf italienisch, lateinisch, griechisch und hebräisch geschrieben sein würden, machte er sich am nächsten Morgen in der Biblioteca Nazionale auf die Suche. Mit einem alten Lappen putzte er sich die Schuhe, steckte das Hemd ordentlich in die Hose und band sich zum ersten Mal seit Jahren wieder eine Krawatte um. Quinten ging währenddessen seine eigenen Wege.
    Gleich am ersten Tag, schon nach wenigen Stunden, wurde ihm klar, was er bereits vermutet hatte: Die Schriften über den Tempel von Jerusalem und die Bundeslade bildeten durch die Jahrhunderte hindurch ein ebenso unüberschaubares Konglomerat wie Rom, wo das eine auf dem anderen aufgebaut war und das meiste noch unter der Erde lag. Er konnte der Versuchung nicht

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