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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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widerstehen, hier und dort in den unzähligen rabbinischen Kommentaren zu stöbern und einen flüchtigen Blick auf das zu werfen, was Philo über die Lade geschrieben hatte, im Mittelalter dann Thomas von Aquin, während der Renaissance Pico della Mirandola, Francesco Giorgi und Campanella, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert Fludd und Kepler und sogar Newton, bis hin zu den verwässerten Auffassungen der modernen Freimaurer, Rosenkreuzer und Anthroposophen. Die Existenz dieser Spekulationen machte ihm einmal mehr deutlich, was für eine Aufregung entstehen würde, wenn die Lade tatsächlich wieder auftauchte, aber abgesehen davon war das alles verführerisch interessant. Aus Erfahrung wußte er, daß er nie zu einem Ende kommen würde, wenn er sich tatsächlich darauf einließe. Über die Stichwörter in den jüdischen und hebräischen Enzyklopädien, über Anmerkungen, Verweise und Bibliographien mußte er strikt seiner Spur nachgehen, wie ein Polizeihund mit der Nase am Boden, sich nicht ablenken und alles links liegenlassen, was nicht unmittelbar zum Ziel führte.
    Und dieses Ziel war nicht religiös oder metaphysisch-symbolisch, sondern sehr konkret: Gab es die Bundeslade noch, und wenn ja, wo war sie?
    Am nächsten Morgen ging er mit Hilfe einer Bibelkonkordanz die eher zweihundert als hundert Hinweise durch, und nachmittags vertiefte er sich mit den Augen Quintens in die Geschichte des Lateranpalastes, der Basilika und des Sancta Sanctorum. Als die Bibliothek an diesem Abend geschlossen wurde, hatte er einige Entdeckungen gemacht, die Quinten überraschen würden, aber er beschloß, erst dann mit ihm darüber zu sprechen, wenn sein Bild von der Sache mehr oder weniger abgerundet war. Im letzten Augenblick hatte er im systematischen Katalog noch einen vielversprechenden italienischen Titel über den Schatz des Sancta Sanctorum gefunden, und da er wenig Lust hatte, wieder in dieselbe Bibliothek zu gehen, rief er beim kunsthistorischen Institut in der Via Omero an; dort war das Buch sogar im deutschen Original vorhanden. Erst unterwegs merkte er, daß er auch jetzt wieder eine Krawatte trug.
    Als die Bibliothekarin ihn sah, ging ein Lächeln über ihr Gesicht.
    »Haben Sie Ihren frommen Begleiter heute zu Hause gelassen?«
    »Das ist mein Sohn. Der treibt sich auf der Suche nach den Geheimnissen der Antike irgendwo in der Stadt herum.«
    »Gratuliere. So einen schönen Jungen habe ich noch nie gesehen. Er sieht genauso aus wie Johannes der Täufer auf dem Gemälde von Leonardo da Vinci.« Sie streckte ihm die Hand hin und sagte: »Elsa Schulte.«
    Onno erschrak. Er nahm den Stock in die andere Hand, drückte die ihre und wollte »Enrico Delius« sagen, aber ehe er sich’s versah, sagte er:
    »Onno Quist.«
    Ihm war klar, daß er jetzt endgültig ein Loch in seine Anonymität geschlagen hatte, aber Elsa Schuhes Gesicht verriet kein Zeichen des Erkennens. Das Buch, um das er gebeten hatte, lag bereits auf dem Lesetisch: Die römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihr Schatz: Meine Entdeckungen und Studien in der Palastkapelle der mittelalterlichen Päpste , veröffentlicht 1908 von einem gewissen Grisar, einem österreichischen Jesuiten. Er beschrieb alles penibel und vermerkte auch, daß der Altar einen Meter achtundvierzig lang, fünfundneunzig Zentimeter breit und achtundneunzig Zentimeter hoch war, so daß die Lade also ziemlich exakt hineingepaßt hätte.
    Aber sie befand sich nicht darin. Onno zweifelte daran keinen Augenblick, und es tat ihm leid, Quinten das nachher sagen zu müssen. Mittags aß er in der Kantine zwei Panini und kehrte dann an den Lesetisch zurück, um seine Notizen zu ordnen.
    Er kam sich vor wie ein Student, der für seinen wahnsinnigen Professor Grundlagenforschung betrieb und nun zweifellos durch die Prüfung fallen würde, weil seine Ergebnisse nicht den überspannten Erwartungen entsprachen. Zugleich aber erfüllte ihn die törichte Arbeit mit nostalgischer Erinnerung an die Tage des Diskos von Phaistos.
    Am Nachmittag kam plötzlich ein intellektuell wirkender Herr auf ihn zu. Er bemerkte Onnos Stock, der auf einem Stuhl neben ihm lag, und den Zopf im Nacken. Mit unbewegter Miene sagte er: »Guten Tag, Herr Quist. Nordholt. Ich bin der Direktor.«
    »Ich weiß«, nickte Onno und sah ihn über den Rand seiner Lesebrille an. Er hatte ihn seinerzeit selbst ernannt.
    »Es freut mich, daß Sie so freundlich sind, von unserem Institut Gebrauch zu machen. Unser Etat ist vor einigen

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