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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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gerührten Blicke, die die Passionisten-Patres aus den Augenwinkeln auf ihn warfen, wenn er mit seinen schönen blauen Augen wieder durch die Gitter auf den verriegelten päpstlichen Altar starrte oder in einer der Seitenkapellen ergeben mit seinen schmalen Händen in der kleinen Bibel blätterte, bemerkte er nicht. Die unmittelbare Nähe eines Geheimnisses, um das er in einer halben Minute herumgehen konnte, das zugleich aber so unerreichbar war wie tagsüber der Traum von der Burg, isolierte ihn vollkommen von dem, was um ihm herum geschah. Es war auf die Entfernung schwer zu schätzen, aber es kam ihm so vor, als ob der Raum unter der Altarplatte groß genug sei, um die Lade aufzunehmen. Er bemerkte, wie schwer es war, etwas ganz genau anzusehen, aber er hatte inzwischen festgestellt, daß hinter dem Gitter eine Bronzetür war, die man ebenfalls mit einem großen Vorhängeschloß verriegelt hatte. Nie zuvor war er sich einer Sache so sicher gewesen wie jetzt: Dort drinnen wurde etwas Außergewöhnliches verwahrt, er spürte es mit allen Sinnen, die er besaß, wie eine Kompaßnadel den Pol. Nachdem die Patres gegen fünf Uhr die Besucher mit gemessener Gebärde zum Gehen ermahnt hatten, ging er auf dem Platz einige Male um den Komplex herum und sah sich die Außenmauern der Kapelle an, die von Fontanas Neubau eingeschlossen wurden. Auf dem kleinen Rasen daneben machten Tamilen ein Feuer; ein halbentkleideter Mann mit nur einem Arm wusch sich, was von einem anderen aus einem geparkten Auto heraus mit einem Teleobjektiv fotografiert wurde.
    Auf dem Heimweg ging Quinten auch noch einmal zum Titusbogen auf dem Forum Romanum. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er auszumachen, ob sich die Bundeslade ursprünglich vielleicht auf dem Relief befunden hatte, aber irgendwann von einem Papst weggeschlagen worden war.
    Die Sonne warf scharfe Schatten und machte die Szene noch viel lebendiger und inspirierter als beim ersten Mal. Ganz in der Nähe rauschten unaufh örlich die Autos und Busse vorbei, aber die Aufregung und der Lärm jenes triumphalen Einzugs vor fast zwanzig Jahrhunderten hier an dieser Stelle klangen auch jetzt wieder durch dieses Rauschen hindurch wie ein wirkliches Unwetter in eine pastorale Szene im Theatersaal.
    Die verbissenen Mienen der Soldaten, die alle einen Lorbeerkranz trugen, über ihnen die flatternden Regimentsstandarten, der geschulterte erbeutete Leuchter, die silbernen Trompeten, der Tisch der Schaubrote. Jeder tat etwas, trug etwas, nur die letzte Figur machte einen verlorenen Eindruck, und bei ihr war der Kopf fast ganz verschwunden. Das Relief war verwittert, es fehlten Details, und die Auspuffgase würden noch mehr verschwinden lassen, aber von der unterschlagenen Lade: keine Spur.
    Als er nach Hause kam, lag Onno auf seiner Matratze und las die International Herald Tribune. Mit der Hand auf der Klinke blieb Quinten stehen.
    »Seit wann liest du Zeitung?«
    Onno ließ die Zeitung sinken, sah ihn über den Rand seiner Brille an und sagte: »Ich bin tief gesunken, Quinten.«
    Er erzählte, was ihm im Institut widerfahren war, und daß es nun mit seiner anonymen Existenz bald vorbeisein würde, er aber im Tausch dafür die Welt wiederentdeckt habe.
    »Ich hätte nicht gedacht, daß das noch passiert. Ich dachte, ich würde bis zu meinem Lebensende trauern, und wärst du nicht nach Rom gekommen, wäre das auch sicher so gewesen, aber es mußte offenbar ganz anders kommen.«
    »Es ist auf jeden Fall so, wie es ist«, sagte Quinten, der sich auf den Stuhl an Onnos Schreibtisch gesetzt hatte.
    Onno faltete die Hände über der Zeitung und betrachtete eine Weile eine große schwarze Feder von Edgar, die auf der Fensterbank in einem Tintenfaß stand.
    »Weißt du, was vielleicht die schrecklichste Redewendung überhaupt ist? ›Die Zeit heilt alle Wunden.‹ Aber es stimmt. Es bleibt zwar immer eine Narbe zurück, die vielleicht schmerzt, wenn das Wetter umschlägt, aber die Wunde ist eines Tages verheilt. Als Achtjähriger bin ich einmal mit einer gebogenen spitzen Nagelschere in der Hand gestolpert, sie drang tief in mein Knie ein, und ich weiß noch genau, wie ich geschrien habe vor Schmerzen. Wie jeder andere habe ich also eine Narbe im Knie, aber ich könnte dir jetzt nicht sagen, an welchem. Du hast bestimmt auch Narben und kannst dich an die Wunden nicht mehr erinnern. Das hat doch etwas Furchtbares! Das bedeutet doch, daß es diese Wunden im nachhinein genausogut nicht hätte geben

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