Die Entdeckung des Himmels
können. Was mir passiert ist, ist eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was anderen passiert ist, im Krieg zum Beispiel, und die Wunde ist offenbar verheilt – aber deine Mutter bleibt im Koma, und Tante Helga bleibt tot.
Da stimmt doch etwas nicht.«
Quinten verwirrten diese Worte, und als Onno es bemerkte, richtete er sich ein wenig auf und lachte.
»Hör nicht auf deinen alten Vater. Die Menschheit könnte gar nicht existieren, wenn es anders wäre, und für die Tiere ist es überhaupt kein Problem. Wenn wir demnächst alle Rätsel gelöst haben werden, wird uns immer noch das Rätsel der Zeit bleiben. Das sind wir nämlich selbst. Darum lese ich jetzt die Zeitung. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Weltpolitik dich interessiert, aber soll ich dir mal erzählen, was ich entdeckt habe?«
»Ja«, sagte Quinten. »Aber nicht, was du in der Weltpolitik entdeckt hast.«
Onno atmete einmal tief durch, warf die Zeitung auf den Boden und erhob sich von der Matratze.
»Laß mich da mal hin.« Quinten stand auf und lehnte sich an die Fensterbank, Onno setzte sich vor seine Notizen. »Ich bin um einiges schlauer geworden, aber ich bezweifle, ob du dich darüber freuen wirst.« Wie jemand, der eine Patience legen will, breitete er seine Notizen in vier langen Reihen auf dem Tisch aus, verschränkte die Arme und schaute sie einige Sekunden lang an. »Wo soll ich anfangen?«
»Am Anfang.«
»Darf es auch das vermutliche Ende sein?« Er nahm einen Zettel. »Nach dem zweiten Buch der Könige, Vers 9, wurde der Tempel Salomos von den Babyloniern geplündert und mit ganz Jerusalem in Brand gesteckt. Die allgemeine Auffassung ist, daß dabei auch die Bundeslade verlorenging. Aber das wußtest du ja schon. Der siebenarmige Leuchter und die anderen Gerätschaften wurden später noch einmal angefertigt, einzige Ausnahme: die Bundeslade. Wenn du die Bibel bei Jeremia 3, Vers 16, aufschlägst, liest du, daß Jahwe den Propheten drei Dinge hat wissen lassen: daß niemand über die Bundeslade sprechen darf, daß niemand danach suchen und daß keine neue gemacht werden darf. Das ist die letzte Erwähnung der Bundeslade im Alten Testament.«
»Aber wenn niemand danach suchen durfte«, sagte Quinten, »dann heißt das doch, daß sie nicht verschwunden war, auch wenn sie nicht mehr im zweiten und im dritten Tempel stand.«
»Das könnte man daraus schließen. Und dann wird dein Einwand von einigen apokryphen Texten gestützt. Zum Beispiel durch die sogenannte Syrische Apokalypse von Baruch.
Darin steht, daß ein Engel aus dem Himmel in das Allerheiligste niederfuhr und der Erde befahl, die Lade zu verschlingen, als sich die Babylonier näherten. Das würde heißen, daß sie in Jerusalem noch immer genau an der Stelle, wo der Tempel stand, im Boden liegt. Ärgerlich ist nur, daß diese Geschichte erst ein Jahrhundert nach Christus geschrieben wurde, also sogar nach der Vernichtung des Tempels von Herodes durch die Römer. Und daran schließt vielleicht eine Legende an, die ich in der rabbinischen Literatur gefunden habe. Nach der Zerstörung von Salomos Tempel soll ein Priester in der Ruine zwei erhöhte Bodenplatten im Boden gesehen haben, doch in dem Augenblick, als er das einem Kollegen erzählt hatte, fiel er tot um. Das war dann der Beweis, daß die Lade weder geraubt noch verbrannt, sondern an dieser Stelle vergraben war. Eine andere schöne Geschichte steht im zweiten Buch der Makkabäer. Dort ist zu lesen, daß derselbe Jeremia von vorhin die Lade auf Befehl Jahwes mitgenommen und versteckt hat.«
»Wirklich?« fragte Quinten gespannt. »Wo?«
»In einer Höhle des Nebo. Das ist der Berg, von dem aus Moses auf der anderen Seite des Jordan das Gelobte Land liegen sah, in das er selbst auf Jahwes Geheiß aus irgendeinem Grund nicht gehen durfte.«
»Und ist nie danach gesucht worden?«
»Natürlich. Sofort. Die Menschen, die bei ihm waren, wollten den Weg zur Höhle markieren und aufzeichnen, aber sie konnten sie nicht mehr finden. Als Jeremia das erfuhr, rügte er sie und sagte – warte mal, wo hab ich’s? Es gibt nur noch einen griechischen Text, aber man merkt, daß er aus dem Hebräischen übersetzt wurde. Hier, ich übersetze das kurz ins unreine: ›Diesen Ort wird kein Mensch finden oder kennen, ehe Jahwe sein Volk wieder vereinigt und ihm gnädig sein wird. Dann wird er es offenbaren.‹« Amüsiert sah er Quinten an, der in seiner Bibel blätterte. »Man könnte tatsächlich meinen, daß nun mit dem Staat
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