Die Entdeckung des Himmels
Jahren vom damaligen Staatssekretär drastisch gekürzt worden, wir mußten einige Entlassungen vornehmen, aber hoffentlich finden Sie trotzdem, was Sie suchen.« Mit einem kurzen Nicken drehte er sich um und verschwand.
Wieder war eine Rechnung beglichen. Onno hatte keine Gelegenheit bekommen, etwas zu entgegnen, aber was hätte er auch sagen sollen? Daß der Direktor sich vielleicht einmal Westerbork anschauen sollte? Daß dank seiner finanziellen Kürzung für die ausländischen Kulturinstitute das Weltall doppelt so groß geworden war? Daß es ein Freundschaftsdienst gewesen war? Auf jeden Fall würde die Nachricht von seiner Anwesenheit in Rom jetzt rasch in die Niederlande kommen, vielleicht telefonierte Nordholt in diesem Augenblick bereits, um zu melden, daß Quist, du weißt schon, ja, der, völlig heruntergekommen sei. Onno zuckte die Schultern und beugte sich wieder über sein Buch, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Er nahm die Brille ab, stand auf, sah eine Weile aus dem Fenster und ging zu einem runden Lesetisch in der Ecke, wo internationale Kunstzeitschriften und einige niederländische Zeitungen und Wochenblätter auslagen.
Im Stehen las er, daß am Vortag in Rom der Prozeß gegen einen Türken begonnen hatte, der vor vier Jahren einen Mordanschlag auf den Papst verübt hatte. »Ich bin Jesus Christus«, hatte er aus seinem schwer vergitterten Käfig gerufen, »das Ende der Welt ist nahe!« Daß er das nun aus einer holländischen Zeitung erfahren mußte! Er blätterte weiter, setzte sich verwundert hin, und zum ersten Mal seit vier Jahren nahm er wieder wahr, was in den Niederlanden und in der Welt passierte.
Als er eine Stunde später aufsah und sich wieder erinnerte, wo er war, hatte er das Gefühl, von den Toten auferstanden zu sein. Es war nichts mehr wie vorher. Den politischen Kommentaren entnahm er, daß sich Dorus’ Kabinett, in dem er Verteidigungsminister hätte werden sollen, nicht länger als neun Monate gehalten hatte; danach hatten Koos und die Sozialdemokraten das Kabinett verlassen oder waren hinaus-geekelt worden, anschließend hatte man es noch eine Weile allein versucht, und nun war Dolf Premierminister. Dolf!
Natürlich! Von Dorus provozierend »Ausputzer« genannt – ein Ausdruck aus dem Radsport, wenn er richtig verstanden hatte –, war Dolf auch von Koos immer unterschätzt worden. Er gönnte es ihm; während dieser schrecklichen Bootsfahrt, am letzten Tag seines vorigen Lebens, hatte er als einziger tröstend die Hand auf seine Schulter gelegt. Ja, so liefen die Dinge, sie hatten immer nur die Vordertür im Auge behalten, die Herrschaften, nicht aber die Hintertür: der klassische Fehler. Aber nicht nur in den Niederlanden hatte sich die politische Lage geändert. Wäre er Verteidigungsminister geworden, hätte er es mit Massendemonstrationen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen zu tun bekommen, und in der Sowjetunion hatte seit einigen Monaten ein neuer Generalsekretär das Sagen, ein Mann in seinem Alter, und offenbar nicht der übliche Betonkopf, sondern ein Besonnener mit klarem, menschlichem Blick und einem ruhigen, entschlossenen Gesicht.
Plötzlich beschlich ihn das Gefühl, daß die Welt in eine Metamorphose geraten war. Aber wie sollte er sich die vorstellen?
Näherte sich vielleicht das Ende des kalten Krieges? Der Gedanke war absurd, in Ost und West wurde weiterhin kräftig aufgerüstet, aber es wollte ihm so vorkommen, als hätte er soeben auf die Welt geschaut wie ein Schachspieler, der beim ersten Blick auf eine fremde Partie sofort den möglichen Ausgang erkannte, der den Spielern selbst noch verborgen war. Er faltete die Zeitungen zusammen und starrte wieder aus dem Fenster. War es denkbar, daß im Jahre 2000 die kommunistische Partei in der Sowjetunion verboten sein würde? Nein, das war undenkbar, aber vielleicht war das Undenkbare bis dahin längst geschehen? War seine taube linke Hälfte – als Folge eines rechten Durchbruchs im Kopf – vielleicht eine politische Prophezeiung? Er wunderte sich über diesen Einfall.
War er dabei, Quintens Denkweise zu übernehmen? Und zugleich versöhnte ihn der Gedanke ein wenig. Lenin, erinnerte er sich, hatte etwa im selben Alter auch einen Schlaganfall gehabt, aber der hatte die rechte Seite gelähmt.
An diesem Tag war Quinten zum dritten Mal zum Gebäude mit dem Sancta Sanctorum gegangen, das er mittlerweile fast so gut kannte wie sein Zimmer auf Groot Rechteren. Die
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