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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Ruf ihrer Kapelle keinerlei Interesse daran, daß das bekannt wird. Sie liefern unsere Personenbeschreibung, und morgen abend erscheinen die Phantomzeichnungen unserer Gesichter zusammen mit einer Nahaufnahme von meinem Stock im vatikanischen Fernsehen. Vater und Sohn: Heiligenschänder. Zehn Millionen Lire Belohnung. Und was tut Mauro dann? Signor Enrico aus Tirol! Und Nordholt? Der versteht plötzlich, warum ich dieses Buch ausgeliehen habe, und er hat meine Adresse im Institut. Er hat mit mir noch ein Hühnchen zu rupfen, aber vermutlich wird er sicherheitshalber zuerst die Botschaft um Rat fragen. Nach Rücksprache mit Den Haag werden sie ihm dort wohl raten, sich vorläufig erst mal im Hintergrund zu halten.«
    »Und ich werde vom Schmied wiedererkannt, bei dem ich die Sachen habe anfertigen lassen. Er hat mich ohnehin schon so komisch angeschaut.«
    Onno wandte ihm den Kopf zu.
    »Ich kann dein Gesicht nicht richtig sehen, aber es sieht aus, als würdest du lachen.«
    »Das stimmt.«
    »Was gibt es jetzt bloß in Gottes Namen zu lachen!«
    »Ich weiß nicht – vielleicht die Aussicht auf die Reise.«
    »Die Reise? Welche Reise?«
    »Unsere Reise natürlich. Schon mal was von religiöser Volkswut gehört? Wir können uns wohl kaum noch auf der Straße zeigen, hier, in der Höhle des Löwen. Bevor das Sancta Sanctorum morgen öffnet, müssen wir aus dem Land sein – egal wo.«

    Da der heilige Benedikt von Nursia begriffen hatte, daß die Träumerei im paradoxalen Schlaf den Mönch allzuleicht in die Netze der fleischlichen Versuchung verstricken konnte und er deshalb mindestens einmal pro Nacht durch die Disteln und Dornen des Gebets drastisch unterbrochen werden mußte, begann der Konvent gegen vier Uhr zum Leben zu erwachen. Gerumpel, in der Kapelle von San Silvestro ging das Licht an, dessen Widerschein auch Onno und Quinten aus ihrer Finsternis erlöste. Erleichtert, daß es endlich soweit war, setzten sie sich aufrecht hin. Immer wieder und in immer längeren Abständen hatten sie besprochen, was sie nachher tun mußten, wohin sie fliehen sollten, aber Quinten meinte, das werde sich von ganz allein ergeben, und Onno hatte schließlich eingesehen, daß es besser wäre, damit aufzuhören, denn es sei wie mit dem Schachspielen: man denke oftsehr lange über einen guten Zug nach, und wenn man ihn schließlich gefunden und ausgeführt habe, wisse man im selben Augenblick, daß es der falsche gewesen sei. Das sei nun einmal der grundsätzliche Unterschied zwischen Denken und Tun. Quinten hatte geschwiegen. Seine Erfahrung war anders.
    Wenn er überlegt hatte und dann etwas tat, war das bisher nie falsch, sondern immer richtig gewesen; daß der Dekalog jetzt in dem Flugzeugkoffer war, war der beste Beweis dafür. Und bald würde sich alles klären. Über die Tafeln und was damit geschehen sollte, hatten sie nicht mehr gesprochen.
    Als in der Stadt allmählich auch in den letzten Nachtklubs die Musik abgeschaltet wurde, füllte sich das Gebäude wieder mit der archaischen, gregorianischen Einstimmigkeit.
    Während Quinten zuhörte, kam ihm zu Bewußtsein, daß alte Kunstwerke auch immer alte Dinge waren: alte Backsteine, alter Marmor, alte Farbe – alte Musik war jedoch zugleich auch immer neu, denn sie kam aus lebenden Kehlen.
    Ansonsten galt das nur noch für alte Geschichten. Weil Musik und Geschichten nicht im Raum, sondern nur in der Zeit existierten.
    »Wir sind jetzt aufgewacht«, sagte er, flüsterte zum ersten Mal nicht mehr und räkelte sich stöhnend. »Wir sehen überrascht, wo wir sind. Im Sancta Sanctorum! Ja, so was! Wie ist denn das möglich! Wir müssen wohl eingeschlafen sein.
    Komm, wir gehen.«
    »Wir werden müssen«, seufzte Onno.
    »Du wirst das Wort führen. Und gib mir den Koffer, sonst vergißt du ihn noch.«
    Während sie durch die hintere Kapelle gingen, wo es schon heller und der Gesang lauter war, fühlte sich Onno wie ein Amateurschauspieler, der im Royal Shakespeare Theatre in der Rolle des King Lear auf die Bühne muß. Sie bogen um die Ecke und blieben stehen.
    In den Chorbänken drehte sich ein Dutzend alter Gesichter über schwarzen Kutten in ihre Richtung, und die Wiederauferstehungsnocturne erstarb auf ihren Lippen. Niemand zeigte ein Zeichen des Erschreckens, nur milde Verwunderung; beim Anblick von Quinten erschien hier und da ein Lächeln. Quinten begriff, daß er jetzt mit dieser Waffe kämpfen mußte. Mit der freien Hand rieb er sich die Augen und wollte ein Gähnen

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