Die Entdeckung des Himmels
wieder in die vierte hinabzusteigen. Um Viertel nach zwölf nahm Quinten die Taschenlampe und sagte: »Es ist soweit.«
Sie hatten inzwischen beide das Gefühl, in der Kapelle, in der sie immer wieder ein und aus gingen, zu Hause zu sein.
Quinten ging in die Hocke, lehnte die Lampe gegen eine Marmorstufe, stützte die Ellbogen auf die Knie, legte die Hände auf die Wangen und betrachtete konzentriert den Schrein. Innerhalb von zehn Minuten mußte es passiert sein.
Daß die vier Fächer leer waren, hatte ihn nicht gewundert, denn das wußte er. Wo konnten zwei flache Steine sonst noch versteckt sein? Eigentlich nur hinter der Schatztruhe. Auf der Rückseite war der Altar an die Wand gebaut, also konnte man von der Seite nicht herankommen. Aber der Schrein mußte herausgenommen werden können: er war ja auch hineingesetzt worden. In der Mitte der unteren Leiste fiel ihm ein Ring auf, der offenbar zu diesem Zweck dort angebracht war, um das ganze Ding nach vorne zu ziehen, aber auch das war unmöglich, weil die Marmorpfeiler des Altars den Schrein an den Seiten blockierten. Das bedeutete, daß der Schrein nicht in den Altar geschoben, sondern der Altar um den Schrein herumgebaut worden war. Und das war bereits um 800 passiert, obwohl die Gesetzestafeln erst vier Jahrhunderte später aus der Basilika hierhergebracht worden waren. Mit anderen Worten: Hinter dem Schrein konnten sie nicht sein. Also?
Also mußten sie darunter liegen.
Der Schrein lag nicht auf dem Boden auf, es war ein schmaler Spalt zu sehen. Er stand offenbar auf Füßen, die durch die Pfeiler verdeckt wurden. Quinten legte sich auf den Bauch, die Wange auf der Stufe, und leuchtete mit der Taschenlampe darunter. Hatte Grisar das auch getan? Welchen Grund hätte er dazu gehabt? Es lag alles mögliche darunter, das schwer zu unterscheiden war, Scherben, irgendwelche Stücke, Brocken, vielleicht die Reste von Maurerarbeiten. Auf beiden Seiten ruhte der Schrein auf flachen Steinen.
Quinten starrte sie an und spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Aus dem Rucksack nahm er einen langen Dietrich und legte den Haken um die Rückseite eines Steins; mit der flachen Hand, die gerade in den Spalt hineinpaßte, half er nach und versuchte, ihn zu bewegen. Knirschend zog er ihn auf dem Steinstaub nach vorne. Er stützte gar nichts!
»Papa –«, flüsterte er tonlos. »Ich hab sie.«
61
Die Flucht
Als Onno den länglichen, grauen, fast schwarzen Stein aus dem Spalt zum Vorschein kommen sah, erinnerte er sich für einen kurzen Moment, wie er sich als kleiner Junge manchmal hinter den Briefkastenschlitz gestellt hatte, wenn es Zeit für den Postboten war, wie sich die Klappe plötzlich öffnete und die Post wie aus dem Nichts hereinfiel.
Er begann zu beben.
»Du bist wahnsinnig!« flüsterte er, obwohl es ihm vorkam, als schrie er. »Das ist unmöglich! Zeig her!«
»Nicht jetzt«, sagte Quinten bestimmt. »Gib mir den Koffer.«
»Zeig, ob etwas draufsteht!«
»Nachher. Beeil dich.«
Mit zitternden Fingern gab Onno ihm den Koffer, und Quinten ließ die Schlösser aufschnappen. Der Stein war leichter, als er gedacht hatte, aber dennoch fast so schwer wie eine Gehwegplatte; vorsichtig bettete er ihn zwischen die Zeitungen, die er zu Hause hineingelegt hatte – Corriere della Sera, La Stampa, Herald Tribune. Als Onno auch den zweiten Stein zum Vorschein kommen sah, drehte er fast durch. Undenkbar, daß das die Gesetzestafeln des Moses waren! Das Aller- undenkbarste! Es waren einfach zwei alte Bodenplatten, und Quinten sah nur, was er sehen wollte, und machte so den anschließenden Katzenjammer nur noch größer!
Quinten ließ die Kofferschlösser erneut klicken, suchte sein Werkzeug zusammen und steckte es in den Rucksack. Während er ihn in der Hand hielt, ließ er den Blick kurz über den Schrein schweifen, öffnete dann das rechte obere Türchen und legte ihn in das Fach.
»Für den ehrlichen Finder«, sagte er und machte das Türchen wieder zu. »In tausend Jahren.«
Dann schloß er auch die Bronzetüren, nahm den großen Riegel von den Stufen, schob ihn durch die Ringe und drückte ihn mit einem lauten Klicken ins Schloß. Dann wurde die Gittertür geschlossen, zweimaliges Klicken der Hängeschlösser, und damit war auch das wieder verriegelt. Zusammen mit Onno schob er die Eisenstangen durch die Ringe und hängte das große Schiebehängeschloß daran. Als er die Teile mit aller Kraft ineinanderdrückte, verursachte das einen durchdringenden,
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