Die Entdeckung des Himmels
vortäuschen, gähnte aber sofort richtig: Die Stille füllte sich mit dem langen, rührenden Gähnen eines strahlenden Jungen.
»Vergebt uns, Fratres«, sagte Onno auf italienisch, »daß wir euch bei eurer Nachtwache stören. Mein Sohn und ich sind gestern eingeschlafen. Den ganzen Tag sind wir durch eure wunderschöne Stadt gegangen und haben uns todmüde kurz in einen Beichtstuhl gesetzt, um uns auszuruhen. Und gerade –«
Mit verschränkten Händen, gebeugt, den Kopf schief auf dem Rumpf, kam ein Greis nach vorne, der sich mit schwacher Stimme als Padre Agostino, der Prior, vorstellte. Er nahm die Hände kurz auseinander, verschränkte sie wieder und sagte: »Gelobt sei Jesus Christus. Möchtet ihr vielleicht etwas essen? Eine Tasse Kaffee?«
Onno war aus dem Konzept gebracht und sah ihn an. So viel fromme Einfachheit und Güte machten ihn wehrlos. Die Brüder waren bestohlen worden, hoffentlich nur um zwei wertlose Steine, und nie würde ihnen etwas fehlen; aber in wenigen Stunden schon würden sie entdecken, daß sie von zwei Einbrechern belogen worden waren, die ihre heilige Kapelle entweiht hatten. Er wollte nichts lieber als eine Tasse Kaffee, aber er hatte das Gefühl, eine richtige Todsünde zu begehen, wenn er das annähme; außerdem mußten sie zusehen, daß sie so schnell wie möglich wegkamen. Deshalb erwiderte er höflich, sie wollten nicht länger zur Last fallen, woraufh in der Prior eine resignierende Geste machte, seine linke Hand kurz über Quintens Kopf schweben ließ und ihn mit der rechten segnete. Als Onno seine Hand zum Abschied ausstreckte, wich der Prior erschrocken zurück und starrte sie an, als würde er mit einem Messer bedroht. Ein Pater führte sie zur Tür des Konvents, und die anderen Patres drehten die Köpfe lächelnd und nickend mit.
In dem weißgekalkten Klostergang, wo ein Porträt des Papstes hing, erklärte der Pater mit entschuldigender Geste: »Nehmt es dem Bruder Prior nicht übel. Man darf ihn nicht berühren. Padre Agostino denkt seit einigen Monaten, er sei aus Butter.«
Kurz darauf verließen sie den Pilgerort durch den Lieferanteneingang.
Sie atmeten tief die Nachtluft ein und gingen auf den Platz.
Am Obelisken drehte sich Quinten um und warf einen letzten Blick auf das Gebäude, wie um Abschied zu nehmen.
»Jetzt ist es nicht mehr der heiligste Ort der Welt«, sagte er.
Die Vorstellung, daß jetzt also er selbst der heiligste Ort sein sollte, war so schockierend, daß Onno nicht wußte, was er sagen sollte. Er hob die Hand und hielt ein Taxi an; damit zählte auch der Fahrer zu der Gruppe, die sie demnächst erkennen würde, aber bis dahin würden sie längst im Ausland sein. Er gab seine Adresse an, Quinten nahm den Koffer auf den Schoß, und während sie schweigend ihre Freiheit genossen, rasten sie zum Kolosseum und über die weite Via dei Fiori Imperiali zur Piazza Venezia. Als sie quietschend in die Kurve gingen, rief Onno plötzlich:
»Aus Butter! Wie kommt er in Gottes Namen darauf!«
»Findest du das so komisch?«
»Du etwa nicht?«
»Gar nicht. Eher logisch.«
»Natürlich«, sagte Onno mit hochgezogenen Augenbrauen, »typisch für dich, so etwas zu verstehen. Erklär mir bitte, warum das nicht senil, sondern logisch ist.«
»Weil Christus sagte, er sei aus Brot.«
Onno antwortete nicht. Er sah hinaus auf die verlassenen Bürgersteige des düsteren Corso Vittorio Emanuele. Wie funktionierte das Gehirn dieses Jungen bloß? War er eigentlich ein Mensch? Der Prior, der sich also selbst auf Christus geschmiert hatte zu einem Butterbrot – in welchem Kopf konnte so etwas gedacht werden? In welcher Welt lebte er?
Stimmte es am Ende sogar, was er sagte? Hatte für jemanden wie den alten Padre die Theologie auch eine psychologische Dimension, von der die Psychologie keine Ahnung hatte?
Auf dem Innenhof an der Via del Pellegrino waren alle Fenster noch dunkel. Leise stiegen sie die Treppen hinauf, und als sie in seinem Zimmer waren, sagte Onno:
»Und jetzt will ich sie sofort sehen.«
Quinten sah auf seine Mickymaus.
»Dazu haben wir keine Zeit, du mußt deine Sachen zusammensuchen. Was nimmst du mit?«
»Nichts. Nur meinen Paß und ein paar Kleider.«
»Und die ganzen Notizen?«
»Die haben ausgedient. Ich werde dem Vermieter einen Zettel hinlegen, daß ich für einige Wochen verreist bin. Die Miete ist zwei Monate im voraus bezahlt; wenn ich dann nicht wieder da bin, wird er schon dafür sorgen, daß die Sachen aufgeräumt
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