Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
werden.«
    »Aber beeil dich, in einigen Stunden müssen wir raus sein aus Italien.«
    »Fünf Minuten!«
    »Dann koche ich schnell noch einen Kaffee.«
    »Nichts auf der Welt brauche ich jetzt mehr! Und bereite dich auf die größte Enttäuschung deines Lebens vor, Quinten.« Onno nahm den Koffer und legte ihn auf den Tisch vor dem Fenster. »Ist etwas Idiotischeres noch möglich? Dank meiner Dummheit müssen wir jetzt außer Landes – und weswegen? Wegen nichts!« Er versuchte die Schlösser zu öffnen.
    »Wie funktionieren die Dinger?«
    Mit einem Kaffeefilter in der Hand kam Quinten aus der provisorischen Küche, ließ die Schlösser aufschnappen und ging gleich wieder zurück. Er war Onno ein absolutes Rätsel.
    Alles hatte der Junge getan, um in den Besitz dieser Steine zu kommen, und jetzt, da er sie hatte, war er einerseits überzeugt davon, daß es die Gesetzestafeln waren, andererseits schienen sie ihn vollkommen gleichgültig zu lassen. Er öffnete den Dekkel, zog die Schreibtischlampe herunter, setzte seine Lesebrille auf und faltete die Zeitungen auseinander.
    Auf den ersten Blick sah er, daß das alles nicht so einfach war: Die Oberfläche der Steine war von allen Seiten mit einem grauen Kuchen überzogen, der aus geronnener Zeit zu bestehen schien. War etwas darunter? Mit dem Daumennagel kratzte er daran, löste aber nur ein paar Bröckchen der körnigen Substanz. Das war Arbeit für ein archäologisches Labor, aber wie er Quinten verstanden hatte, würden die Steine nie dorthin kommen. Sie hatten ungefähr die Abmessungen, die Rabbi Berechiah angegeben hatte, ohne sie je gesehen zu haben. Mit zusammengepreßten Lippen lehnte er sich zurück.
    War es tatsächlich denkbar, daß diese Dinger hier die Vorlage für all jene Abbildungen waren, die in jeder Synagoge über der Bundeslade zu sehen waren? Die Gesetzestafeln: Symbol der jüdischen Religion, wie es die Menora für den jüdischen Staat und der Magen David – der ›Schild des David‹ – für den Zionismus war. War es wirklich denkbar, daß diese Steine, die jetzt hier auf dem Tisch lagen, jemals in der Bundeslade gelegen hatten, jahrelang durch die Wüste geschleppt, jahrhundertelang im Allerheiligsten der drei Tempel aufb ewahrt und dann von Titus –? War es denkbar, daß Quinten doch recht hatte? Verbarg sich Moses’ Handschrift unter dieser Kruste?
    Die Zeichen, die vor viertausend Jahren als Ergebnis irgendeiner Inspiration in den Stein gekratzt worden waren? Plötzlich begann sein Herz zu pochen. Die ältesten bekannten Inschriften in kanaanitischer Schrift stammten aus der Zeit etwa tausend vor Christus; die Schrift von Moses würde also noch um etwa tausend Jahre älter sein. Zweifellos würde sie Ähnlichkeit mit den ägyptischen Hieroglyphen haben – hatte vielleicht auch der Diskos von Phaistos etwas damit zu tun? Die Schrift stammte aus derselben Zeit! Es gab ein Zeichen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Sänfte hatte – war das vielleicht die Bundeslade? Wie gering die Chance auch war, daß Quinten recht hatte, es mußte unwiderlegbar festgestellt werden, daß es nicht so war! Aber wie? Was hatte er vor?
    Als er ein krachendes Geräusch in seinem Nacken hörte, sah er sich erschrocken um. Quinten hatte eine Schere in der Hand und hielt mit der anderen lachend seinen Zopf hoch. Sie hatten diese Metamorphose beschlossen, damit sich im Falle einer Personenbeschreibung am Flughafen niemand an sie erinnern würde – um anschließend zu erzählen, wohin sie abgereist waren. Quinten zog das Gummiband vom Zopf, wobei einige graue Haare darin hängenblieben, nahm dann sein eigenes Haar von hinten zusammen und band das Gummi darum. Im selben Augenblick sah Onno einen Jungen sich in einen Mann verwandeln, wie bei einem Szenenwechsel im Film, wenn die Rolle eines jungen Schauspielers von einem älteren übernommen wurde. Er konnte sich nicht erinnern, je Quintens Ohren gesehen zu haben.
    »Trink deinen Kaffee«, sagte Quinten. »Aber halt den Kopf ruhig.«
    Wie ein Friseur hielt er den Kamm mit den Zinken nach oben in der linken Hand und machte mit der rechten ab und zu ein paar schnelle Schnitte in die Luft. Nach jedem Schnitt entsprach sein Vater mehr der Erinnerung, die er von ihm hatte: innerhalb von fünf Minuten war der Penner zum größten Teil dem Machthaber gewichen, der ihn auf Groot Rechteren manchmal mit dem Auto abgeholt hatte. Während des Schneidens sah er ab und zu über Onnos Schulter auf die Gesetzestafeln wie der

Weitere Kostenlose Bücher