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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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nicht? Ich brauche doch nicht zu tun, was du sagst? Wenn ich nun vollkommen in deiner Gewalt wäre, wäre das etwas anderes, aber ich bin es nicht. Du kannst ja vieles sagen. Die Juden riefen ›Kreuziget ihn‹, und Pilatus tat es. Er hätte doch da oben an der Heiligen Treppe auf seinem Standpunkt beharren und sagen können: ›Haut ab, kommt überhaupt nicht in Frage, er ist unschuldige Er war doch schließlich der Chef!
    Aber er war verantwortlich für Ruhe und Ordnung im besetzten Gebiet und wollte keinen Ärger mit dem Kaiser hier in Rom, alles verständlich, so läuft das in der Politik – aber warum mußten später die Nachfahren dieser Schreihälse verfolgt und ausgerottet werden, und nicht die der tatsächlichen Mörder, also die Italiener? Petrus und Paulus wurden von den Römern gekreuzigt, ohne daß die Juden darum gebeten hatten. Aber nicht nur brauchte das italienische Volk nicht in die Gaskammern, bis vor kurzem waren sogar die Stellvertreter Christi auf Erden fast ausnahmslos italienische Nachfahren der Römer. Und die Päpste haben ihren Sitz immer noch in Rom, wie die römischen Kaiser. Eigenartig, nicht wahr? Man könnte fast sagen: Gottes Wege sind ironisch. Ich dachte früher auch, der Judenhaß habe ausschließlich etwas mit Christus zu tun, aber das stimmt nicht: es gab ihn schon lange vor Christus, und es werden immer wieder neue Gründe dafür erdacht: daß die Juden reich und protzig sind, daß sie arm und schmutzig sind, daß sie die Fäden des plutokratischen Großkapitalismus in der Hand haben, daß sie Revolutionäre sind und den Kommunismus auf dem Gewissen haben, daß sie kein Vaterland haben, daß sie ihr Vaterland auf Kosten anderer neu errichten – alles ist recht, wenn es nur schlecht ist.
    Daß es sich widerspricht, spielt keine Rolle, der Haß ist das entscheidende. Und daß es diesen Haß immer gegeben hat, ist für Antisemiten ein Beweis dafür, daß er doch auf irgend etwas beruhen muß.«
    Auf dem Weg zur Startbahn drehte ein fahrendes Flugzeug ihnen das Heck zu und gab für einige Sekunden einen ohrenbetäubenden Lärm von sich. Quinten wartete kurz.
    »Und worauf beruht er?«
    Onno legte die Hand auf den Koffer, den Quinten auf dem Schoß hatte.
    »Darauf. Zumindest, wenn sich das darin befindet, was du meinst. Auf der Tatsache, daß der Gott der Juden sein Volk geheiligt hat durch einen Vertrag, dessen sich kein anderes Volk rühmen kann. Offenbar ist das für viele Menschen ein unerträglicher Gedanke. Gib den Koffer übrigens besser mir, ich werde reden, wenn es nötig ist.« Er stand auf. »Und denk dran, du hast keine Ahnung, du darfst nur mit.«
    An zwei Tischen, die einige Meter auseinander standen, wurden sie von Sicherheitsbeamten befragt, Quinten auf englisch, Onno auf italienisch. Ob der Koffer und der Rucksack ihr Eigentum seien. Ob sie ihr Gepäck selbst gepackt hätten.
    Ob sie es seit dem Einpacken aus dem Auge verloren hätten.
    Ob jemand ihnen etwas mitgegeben habe. Auf die Frage, was er in Israel wolle, antwortete Quinten, er leiste seinem Vater, der die heiligen Stätten besuchen wolle, Gesellschaft, während Onno sagte: »Geschäftlich.«
    »Welche Art von Geschäften?«
    »Mit mäßigem Erfolg versuche ich, meine Brötchen als Kunsthändler zu verdienen.«
    Der Beamte sah sich die beiden Koffer von allen Seiten an, klebte rote Aufk leber darauf, gab Onno Ticket und Paß zurück und ließ ihn mit einer kurzen Handbewegung durch.
    »Wenn wir den Koffer aufgeben«, sagte Onno, als sie als letzte in der Reihe am Schalter standen, »zerbrechen die Steine vielleicht, er wird bei der Abfertigung herumgeworfen. Aber wenn wir ihn als Handgepäck mitnehmen, müssen wir ihn fast sicher öffnen. Also, was machen wir?«
    »Handgepäck.«
    »Natürlich«, nickte Onno und konnte sich nicht verkneifen, mit einem Lachen hinzuzufügen: »Die ersten beiden sind schließlich auch zerbrochen.«
    Auch hinter der Paßkontrolle, im vollen Warteraum ihres Ausgangs, standen wieder schwerbewaffnete Polizisten und viele Personen, deren Funktion nicht sofort klar war. Vor dem Bildschirm eines Durchleuchtungsgeräts saß vornübergebeugt eine dicke Frau in blauer Uniform, während ein blondes Mädchen mit verschränkten Armen hinter ihr stand und zusah. Onno legte den Koffer aufs Band, er verschwand hinter einer Gummiklappe ins Innere des Geräts. Kurz darauf hielt das Band an. Vielleicht kommt er nie wieder heraus, dachte Quinten – das Röntgenbild würde langsam unscharf und

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