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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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war, wußte ich darüber weniger als die Politologen, die ihrerseits zwar mehr wußten als Hitler und Stalin zusammen, aber nicht einen Funken Macht hatten und auch nie haben würden. Du gehst immerhin einen Schritt weiter. Du bist unverrückbar davon überzeugt, im gegenwärtigen Augenblick die Gesetzestafeln nach Israel zurückzubringen, aber wenn du mich fragst, weißt du nicht einmal, wie dein vermeintlicher Verfasser auf dem Berg im Sinai seine Eingebung bekam. Das hast du wahrscheinlich nie gelesen.«
    »Nein«, sagte Quinten und dachte: Es sind keine Steine, sondern Saphirtafeln. »Wie war das denn?«
    »So wie sich das gehört. In einer vulkanischen Inszenierung aus Donner und Blitz, Rauch, Erdbeben und erschallenden Posaunen, und dazu die Stimme Jahwes sichtbar in einer dunklen Wolke.«
    »Sichtbar? Eine sichtbare Stimme?«
    »Ja, Philo zufolge war das das eigentliche Wunder. Jahwe sprach sichtbare Worte, in Buchstaben aus Licht, die auf nichts geschrieben waren. Das Aufschreiben war dann Moses’
    Sache. Die sichtbare Stimme Gottes, sagte Moses später, war das größte Wunder seit der Erschaffung des Menschen.«
    Quinten spürte, daß Onno ihn weiterhin von der Seite ansah. Vermutlich würde er gleich fragen, ob er, Quinten, noch immer der Meinung sei, tatsächlich die Tafeln zu besitzen, aber ihn hatte offenbar der Mut verlassen. Quinten erwiderte seinen Blick und sagte:
    »Jetzt ist die Francis Bacon also das Sancta Sanctorum.«
    »Die Francis Bacon?«
    »Hast du es beim Einsteigen nicht gesehen? So heißt unser Flugzeug.«
    Als sie den Peloponnes überflogen, wurde auch Quinten schläfrig. Mit schweren Lidern nahm er eine dicke schwarze Fliege wahr, die auf der Fensterscheibe saß. So schnell war sie noch nie geflogen, ohne zu fliegen, wie sollte sie jetzt nur wieder nach Hause kommen? Da ihm das Tier eklig war, verscheuchte er es mit der Hand, es setzte sich einige Reihen weiter auf die Schulter des orthodoxen Herren, der seinen Hut aufgelassen hatte. Langsam fielen seine Augen zu, während sich das Dröhnen der Motoren in mächtige Harmonien riesiger Orchester verwandelte Die Stimme des Kapitäns riß ihn aus dem Schlaf. Auf englisch wurden sie darauf hingewiesen, daß auf der rechten Seite jetzt Kreta lag.
    Quinten sah ein düsteres violettes Gebirge, Onno öffnete seine Augen nicht.
    »Papa. Kreta.«
    »Will ich nicht sehen«, sagte Onno mit abgewandtem Kopf und noch immer geschlossenen Augen. »Ich hasse Kreta.«
    Einige Minuten später wurde das Motorengeräusch plötzlich schwächer, und in den Ohren spürte Quinten, daß die Maschine im Landeanflug war. Ganz kurz öffnete sein Vater ein Auge, schloß es wieder und sagte:
    » Luhot ha’eduth riechen den Stall.«
    »Was heißt denn das nun schon wieder?«
    »›Die Tafeln des Testimoniums‹, Auch eine Bezeichnung für den Pakt.«
    Mit einem Ruck wandte Quinten den Kopf ab und sah mit geweiteten Augen durch das Flugzeug, ohne etwas zu sehen.
    Ihm war, als ob dieses Wort, Testimonium , tief in seinem Innern verborgen gewesen sei wie ein geschliffener, funkelnder Diamant in der blauen Erde.
    In Lod, am Flughafen Ben Gurion, wimmelte es von Polizisten und bewaffneten Sicherheitskräften. Onno fühlte sich an Havanna vor achtzehn Jahren erinnert, als all diese Männer noch mit Rasseln in ihren Wiegen gelegen hatten; aber niemand hatte es auf sie abgesehen. Die Zypern-Urlauber, die nach der Landung applaudiert hatten, waren in der Maschine zurückgeblieben. An langen Tischen wurde das Gepäck erneut kontrolliert, zum dritten Mal wurde verglichen, ob sie Ähnlichkeit mit ihren Paßbildern hatten, und auch der Koffer mußte wieder geöffnet und noch einmal Parsifal zu Hilfe gerufen werden. Neben ihnen stand der orthodoxe Jude und warf einen kurzen, desinteressierten Blick auf die Steine.
    »Wenn der wüßte«, sagte Quinten.
    »Vorsicht«, mahnte Onno leise. »Auch im Ausland ist nicht ausgeschlossen, daß dich jemand verstehen kann. Vor allem in Israel.« Als sie endlich die Erlaubnis der Einreise bekommen und Geld abgehoben hatten – Schekel, die der Israel-Broschüre der Luftfahrtgesellschaft zufolge auch schon in alttestamentarischen Zeiten Zahlungsmittel waren –, fragte er: »Und jetzt?«
    »Ja, was wohl? Jetzt gehen wir hinaus.«
    Es war fast ein Uhr, und auf dem Platz vor der Ankunftshalle hing eine flirrende Hitze, die Menschen hatten kaum noch Schatten an den Füßen. Durch das Chaos von Autos und Bussen gingen sie zu einem niedrigen weißen

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