Die Entdeckung des Himmels
das erste, das er sieht, der beigefarbene Umschlag mit der Aufschrift SOMNIUM QUINTI.
Zärtlich nimmt er ihn in die Hand. Das hier ist also der Ort, um die Grundrisse nachzuarbeiten, aber das wäre dann etwa so, als zählte ein Mathematiker ein komplexes Ergebnis an den Fingern nach. Er faltet die Zeitungen auseinander, hebt die grauen Tafeln heraus und legt sie behutsam nebeneinander auf den Steinboden. Dann legt er den Umschlag zurück in den Koffer, schiebt diesen wieder an seinen Platz, schließt die Safetür und dreht mit der flachen Hand zweimal den Zahlenknopf. Ohne daß er weiß, was weiter geschieht, nimmt er die beiden schweren Steine und steht auf, was für Edgar das Zeichen ist, sich auf seine Schulter zu setzen.
Aber als er über die Schwelle tritt, verändert sich wieder alles. Erschrocken bleibt er stehen, Edgar ist direkt neben seinem Ohr, und er spürt die ledrigen Krallen mit den harten Nägeln auf der Haut. Die Steinmassen um ihn herum verlieren allmählich ihre Substanz: es ist, als ob sie sich in Holz verwandelten – und dann in bemaltes Leinen, und dann in Brüsseler Spitze, durch die er hindurchschauen kann – alles pulverisiert und verflüchtigt sich, Tageslicht dringt ein, und kurz darauf ist von der Burg nur noch einen Moment lang ein zitterndes Nachbild übrig – aber gerade das gibt ihm plötzlich eine Vorstellung ihrer Dimensionen: ein Areal, mindestens tausend Kilometer in Richtung Osten bis nach Bagdad, tausend Kilometer westwärts bis nach Libyen, tausend Kilometer nordwärts bis zum Schwarzen Meer und tausend Kilometer nach Süden bis Medina, und noch einmal zweitausend Kilometer hinauf bis zum äußersten Bereich der Atmosphäre –.
Mit Edgar und den beiden Tafeln steht er mit einem Mal draußen in der Sonne und erkennt sofort, wo er ist: im Kidrontal.
Ihm gegenüber glänzt in der Höhe über der Tempelmauer die goldene Kuppel des Felsendoms; hinter ihm ist der Ölberg. Der Weg, den er in der Burg zurückgelegt hat, muß etwa ebenso lang sein wie der vom Hotel hierher. Er fühlt sich unbehaglich, weil er nur ein Handtuch um die Lenden trägt, aber die Welt ist noch immer so still und reglos wie vorhin. Steht die Sonne am Firmament auch so still? Das ist nicht möglich, denn sonst würde alles verbrennen – um das zu verstehen, braucht er keinen Max. Ist vielleicht zwischen vorhin und jetzt keine Zeit verstrichen? Aber wenn das hier kein Traum ist, was ist dann ›jetzt‹? Sein Blick fällt auf das Goldene Tor, das ein Stück aus der Mauer hervorragt. Die Soldaten auf dem Dach sind verschwunden, die beiden hohen Durchgänge offen.
Muß er jetzt durch dieses Tor und die Zehn Gebote auf den Felsen zurücklegen? Seinem Vater hat er gesagt, daß er das nicht vorhat, weil sie niemandem in die Hände fallen dürfen.
Auf der Seite des Tempelbergs ist das Tor ohnehin zugemauert.
Trotzdem gibt es keine andere Möglichkeit, als in diese Richtung zu gehen: er wird schon sehen. Nach einigen Schritten bleibt er stehen. Die unebene Erde ist mit Steinen übersät, die seine nackten Füße malträtieren, vor allem, weil er jetzt, mit den Steintafeln unterm Arm, viel schwerer ist. Suchend sieht er sich um, ob er vielleicht ein paar alte Lumpen oder Palmblätter finden kann, am besten wäre natürlich ein Paar Schuhe.
Dann sieht er in den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung.
Aus der Ferne galoppiert von Norden her ein weißes Pferd mit wehender Mähne und wallendem Schweif an der Mauer entlang auf ihn zu. Mit offenem Mund schaut Quinten der Erscheinung in der erstarrten Landschaft zu. Unmittelbar vor ihm geht der Schimmel auf die Hinterbeine und nickt schäumend mit dem Kopf, als wolle er etwas bestätigen. Und im selben Augenblick weiß Quinten, was es ist.
»Deep Thought Sunstar!«
Da zerbricht etwas in ihm. Schluchzend will er dem Tier die Arme um den Hals schlingen, aber die beiden Steine hindern ihn daran; als er ihm einen Kuß auf die Nüstern drückt, kniet es nieder wie ein Kamel. Quinten steigt auf und setzt sich auf den verschwitzten Rücken, Edgar hält sich mit dem Schnabel an Quintens Zopf fest; mit schnellen, kurzen Bewegungen erhebt sich Deep Thought Sunstar und macht sich auf zum Goldenen Tor. Mit nacktem Oberkörper, den Raben auf der Schulter, die Steine in den Händen, schaut Quinten lächelnd über die märchenhaften Hügel und die sich nähernde Tempelmauer. Titus sollte ihn jetzt sehen, und der Papst, und der Oberrabiner! Vorsichtig sucht Deep Thought Sunstar
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