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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einen Weg zwischen den Gräbern hindurch und geht am Tor wieder in die Knie. Als Quinten abgestiegen ist, steht das Pferd sofort wieder auf und trabt zurück zum Tal; auch Edgar spreizt die Flügel, versetzt Quinten damit einen Klaps auf den Kopf und fliegt hinter dem Pferd her. Traurig sieht Quinten sie kleiner werden: der Schimmel im Galopp, der Rabe über ihm, der eine so weiß wie der andere schwarz –. Als sie verschwunden sind, herrscht überall wieder die alte Reglosigkeit.
    Mit einem Seufzer dreht er sich um und geht in das Torgebäude. Auch die andere Seite ist jetzt offen. Mit einem feierlichen Gefühl durchquert er den dämmrigen Raum, in dem hier und da einige Säulen stehen; es scheint, als würde ein leichtes Rauschen dazwischenhängen, etwas wie Meeresrauschen in einer Muschel. Draußen fängt ihn die Sonne wieder auf. Langsam steigt er die Stufen empor, die zum Tempelplateau führen. Dort bleibt er stehen und schaut sich um. Das Gelände ist etwa genauso groß wie in Westerbork. Keine Menschenseele zu sehen. Alles ist nur für ihn da, die ganze Welt ist jetzt nur für ihn da und wartet auf ihn. Über den Rasen kommt er zur breiten Treppe der Tempelterrasse. Die Arkadenreihe, die sie von oben abschließt, hat hier fünf Bögen; unter dem mittleren bleibt er wieder stehen. Direkt vor ihm befindet sich der kleine Kettendom, unmittelbar dahinter der goldene Felsendom: ein Kind mit seinem Vater. Die Restaurierungsarbeiten an dem kleinen Heiligtum sind inzwischen abgeschlossen, durch den rundherum offenen Raum kann er das dunkle Innere des Felsendoms sehen. Er holt tief Luft und geht langsam auf das schwarze Loch zu, ohne die Augen davon abzuwenden.
    Als er den Mittelpunkt des Kettendoms überschreitet und umringt ist von der doppelten Säulenreihe, ist es soweit: – ich nehme ihm die Sache aus der Hand. Plötzlich hört er ein leises Knistern und bleibt stehen. Verwundert sieht er sich um, aber das Geräusch ist ganz in der Nähe. Es scheint fast, als würde es aus den Steintafeln kommen. Er stützt sie auf die Hüften, und erstaunt nimmt er wahr, was geschieht. Es ist, als würde die graue Kruste zu leben beginnen, sich bewegen, schmelzen, etwas will sich darunter hervordrängen, sich befreien; kurz darauf erkennt er auf der gesamten Oberfläche kleine, glasig durchscheinende Wesen, sie lösen sich aus dem Kuchen Tausender von Jahren, springen ab und schwärmen um ihn herum. Buchstaben! Es sind Buchstaben! Buchstaben aus Licht! Im selben Augenblick sind die Saphirtafeln so schwer geworden, daß er sie nicht mehr halten kann – während ihm auch das Handtuch von den Hüften rutscht, entwischen sie ihm und zerspringen auf dem Marmorboden geräuschlos in tausend Splitter. Aber das ist ihm gleichgültig, er will die Buchstaben haben, sie dürfen nicht entkommen! Die zehn Worte! Du stiehlst nicht! Du mordest nicht! Mit beiden Händen versucht er sie zu erwischen, aber der Schwarm fährt in die Kuppel auf, zum grünen, fünfblättrigen Kleeblatt am höchsten Punkt, fliegt dort ausgelassen umher wie Schmetterlinge, taucht ab, flattert zum Felsendom und verschwindet im schwarzen Eingang. Verzweifelt rennt er ihnen nach.
    Drinnen, im Halbdunkel, tanzen die Buchstaben über dem heiligen Felsen leuchtend auf und ab. Was soll er um Himmels willen tun? Plötzlich spürt er, daß Blicke auf ihn gerichtet sind. Die weißgekleidete Frau, die in der Nische gebetet hat, hat sich umgedreht und sieht ihn mit glänzenden Rehaugen an. Das Tuch ist ihr vom Kopf gerutscht, das Gesicht ist von einem Viereck aus schwarzem Haar eingerahmt. Er erstarrt.
    Ist das alles also doch ein Traum?
    »Mama!« ruft er – aber kein Laut dringt aus seinem Mund.
    Wo er steht, sitzen auch noch die anderen Frauen in der Galerie und sehen ihn mit den gleichen Augen an – mit einem Sprung ist er auf dem Felsen: rundherum überall Adas!
    Alle Frauen sind seine Mutter! Langsam öffnet er die Arme, legt den Kopf in den Nacken und sieht die Arabesken auf der Innenseite der Kuppel: ein Netzwerk unzähliger, ineinander verflochtener Achten – und im selben Augenblick hüllt Moses’ Buchstabenschwarm seinen nackten Körper mit einem so grenzenlosen, blendenden Licht ein, daß er darin versinkt wie der Schein einer Kerze in dem der Sonne –

    Onno klopfte an Quintens Tür. Als auch nach dem zweiten Mal keine Antwort kam, öffnete er sie leise, aber nach etwa zehn Zentimetern wurde sie von einer Kette festgehalten.
    Durch den Spalt konnte er einen

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