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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Teil des Waschbeckens sehen, auf dem Quintens Uhr und sein Kompaß lagen.
    »Quinten!« fragte er. »Schläfst du?« Wieder keine Antwort.
    Er bückte sich und versuchte, durchs Schlüsselloch zu schauen, aber es war nichts zu sehen. Dann rief er laut: »Quinten!« und schlug dreimal mit dem Stock gegen die Tür.
    Nichts geschah. War etwas passiert? Quinten mußte im Zimmer sein, von außen konnte die Kette nicht vorgelegt werden. Irgend etwas stimmte nicht! Onno spürte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg.
    Er plazierte den Stock wie einen Hebel in den Türspalt und zog mit aller Kraft, bis die Kette aus der Rille flog und die Tür gegen die Wand knallte. Niemand. Auf dem Bett lagen die Kleider, die Quinten am Vormittag angehabt hatte, auch seine Unterhose war da. Entsetzt sah Onno das offene Fenster. Was, um Himmels willen, war passiert? Hatte sich Quinten vielleicht dieselben Gedanken über diese Frau 415 gemacht wie er und in einer Anwandlung von geistiger Umnachtung – aber das hätte er doch gehört! Mit wenigen Schritten war er bei der Fensterbank, auf der hier und da Vogelkot war, und schaute hinunter. Im Innenhof war eine Frau dabei, einen Berg Leinzeug in große Wäschesäcke zu stopfen; auf einer Steinbank las eine schlanke Frau mit rötlichen Haaren ein Buch und schob dabei mechanisch ihren Kinderwagen hin und her. Er sah nach links und nach rechts und an der Außenmauer nach oben – nirgends eine Feuerleiter oder ein Regenrohr, woran er hätte hinaufk lettern können. Und warum sollte er wohl nackt hinausklettern? Onno schaute noch im Wandschrank und unter dem Bett nach, dann blieb er wankend in der Mitte des Zimmers stehen. Er mußte jetzt genau überlegen. Wenn Quinten nicht hier war und wenn er nicht durch die Tür hinausgegangen sein konnte und auch nicht durchs Fenster, dann blieb nur eine einzige Schlußfolgerung: Es war etwas geschehen, was schlicht und einfach nicht möglich war.
    Daß es darauf hinauslief, daß Quinten eines Tages etwas Unmögliches tun würde, hatte er seit dem Tag der Geburt gewußt. Daß er tatsächlich die Gesetzestafeln aus dem Sancta Sanctorum geholt haben sollte, war ja um Haaresbreite nicht unmöglich, aber mit seinem Verschwinden aus diesem Zimmer war nun gerade das ganz und gar Unmögliche eingetreten. Und das, obwohl das Unmögliche doch unmöglich war!
    Onno dachte an die Steine, die Quinten gestern in den Safe gelegt hatte: Hatte das etwas miteinander zu tun? Bewies das Unmögliche das fast Unmögliche?
    Er schaute sich noch einmal um, als ob Quinten vielleicht doch plötzlich wieder erschienen sein könnte, und ging hinunter. An der Rezeption und in der Hotelhalle war niemand zu sehen, er drückte auf den Knopf der altmodischen Klingel, die auf dem Tresen stand. Kurz darauf kam aus der Tür hinter dem Tresen das Mädchen mit dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar.
    »Shalom.«
    »Mein Sohn«, sagte Onno, während er sich im selben Augenblick über dieses Wort wunderte, »hat hier gestern einen Koffer in den Safe gelegt. Haben Sie ihn in der letzten Stunde vielleicht herausgenommen?«
    »Ich habe Ihren Sohn heute leider noch nicht gesehen.«
    »Und Herr Aron?«
    »Mein Vater ist heute morgen schon in aller Frühe nach Bethlehem abgereist, um meine kranke Großmutter zu besuchen. Der Safe ist seit gestern nicht mehr geöffnet worden.
    Wenn Sie möchten, können Sie sich bitte selbst überzeugen.«
    Er folgte ihr in das kleine Büro, wo sie sich am Safe niederkniete und das Buchstabenschloß betätigte. Sie öffnete die Tür und zeigte auf den Koffer, der im unteren Fach lag. Onno starrte ihn einige Sekunden an und sagte dann:
    »Darf ich ihn kurz haben?«
    Sie händigte ihm den Koffer aus, aber im gleichen Moment, als er ihn nahm, war es, als wollte der Koffer in die Luft fliegen, als würde er ihn an die Decke werfen, so leicht war er. Die Steine waren weg!
    »Was machen Sie denn?« fragte das Mädchen lachend.
    »Mir ist schwindlig«, sagte Onno und suchte nach einem Halt.
    Rasch gab sie ihm einen Stuhl, und mit dem Koffer auf dem Schoß setzte er sich hin. Auch das war unmöglich. Ebensowenig wie Quinten aus seinem Zimmer konnten die Steine aus dem Safe verschwunden sein. Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, fragte er: »Kennt noch jemand außer Ihnen die Kombination des Schlosses?«
    Erschrocken sah sie ihn an.
    »Nur mein Vater und ich. Glauben Sie, daß etwas nicht stimmt?«
    Onno schüttelte den Kopf. Mit bebenden Fingern und wider besseres Wissen begann er an

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