Die Entdeckung des Himmels
den Schlössern zu fummeln, woraufh in sie ihm zur Hand ging und sie aufschnappen ließ. Auf dem Umschlag, den er gestern bei der Kontrolle auf dem Flughafen in Rom gesehen hatte, las er nun: SOMNIUM QUINTI. Quintens Traum? Ein Abschiedsbrief, den er schon vorher geschrieben hatte? Er nahm die Papiere heraus, aber es waren ausschließlich architektonische Skizzen und labyrinthische Grundrisse, die hier und da mit Bildunterschriften wie Laufb rücke, Weltmitte, Wendeltreppe versehen waren.
Die einzige Erklärung des nicht zu Erklärenden. Plötzlich griff er sich mit beiden Händen an den Kopf. Er konnte nicht mehr darüber nachdenken! Quinten war vielleicht nicht sein Sohn, oder vielleicht doch, aber jetzt war er weg, für immer weg, vom Erdboden verschwunden, niemand wußte, wohin.
Er war von ihm verlassen worden, wie er ihn selbst einmal verlassen hatte, aber er würde Quinten – anders als Quinten ihn – nie wiederfinden. Jetzt war er wirklich in der Lage, in die er sich vor vier Jahren willentlich gebracht hatte: Er hatte niemanden mehr.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Nein«, sagte er und suchte hektisch in seiner Brusttasche, »überhaupt nicht – ich muß –« Mit zitternden Händen begann er in einem Notizbuch zu blättern. »Kann ich hier telefonieren?«
»Selbstverständlich.« Das Mädchen nahm den Koffer von seinem Schoß und zeigte ihm das Telefon auf dem kleinen Tisch neben der Schreibmaschine. »Ein Ortsgespräch?«
»Ein Auslandsgespräch.«
»Dann schalte ich kurz den Zähler ein.« Sie drückte auf den Knopf eines schwarzen Apparates an der Wand, schloß den Safe und sagte: »Ich werde Sie allein lassen.«
»Sophia Brons.«
»Hier Onno.«
»Wer?«
»Onno. Onno Quist.«
»Onno? Höre ich richtig? Bist du das, Onno?«
»Ja.«
»Das kann doch nicht wahr sein. Sag das noch mal.«
»Sie sprechen mit Onno, Ihrem Schwiegersohn.«
»Onno! Ist das denn die Möglichkeit! Ich wußte, daß du eines Tages wiederauftauchen würdest! Von wo rufst du an?
Bist du in den Niederlanden?«
»Ich rufe aus Jerusalem an.«
»Jerusalem! Hast du die ganze Zeit in Jerusalem gesteckt?«
»Nein. Ich weiß, daß ich viel zu erklären habe, und das werde ich auch tun, aber ich rufe jetzt an, weil –«
»Es ist unglaublich, daß du ausgerechnet jetzt anrufst – als hättest du es gespürt –«
»Was gespürt?«
»Onno –«
»Was ist denn los?«
»Bereite dich auf einen Schock vor, Onno. Ich komme gerade von Adas Einäscherung. Ich habe den Mantel noch an – Onno, bist du noch dran?«
»Entschuldigen Sie bitte, mir schwirrt der Kopf, es ist alles – Ada ist gerade eingeäschert worden?«
»Wahrscheinlich wird jetzt gerade ihre Asche in die Urne gefüllt. Wir brauchen nicht um sie zu trauern, es hätte schon viel früher passieren müssen.«
»Ja.«
»Das arme Kind – aber jetzt ist alles vorbei. Nach mehr als siebzehn Jahren – es ist doch himmelschreiend.«
»Ja.«
»Du möchtest sicher Quinten sprechen, aber er ist nicht da.
Ich war vorhin die einzige. Er ist seit einigen Wochen in Italien, aber er hat noch nichts von sich hören lassen. Er hat inzwischen Geburtstag gehabt, aber ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Er weiß noch nichts.«
»Mutter – deshalb rufe ich an. Wegen Quinten.«
»Wegen Quinten? Wie meinst du das?«
»Wir sind uns begegnet. Zufällig. In Rom.«
»Ihr habt euch getroffen? Das meinst du doch nicht im Ernst! Wann? Warum weiß ich davon nichts? Hat er sich nicht riesig gefreut? Und was macht ihr jetzt in Jerusalem?«
»Inzwischen ist eine Menge passiert, ich kann Ihnen das jetzt nicht alles erklären, es ist übrigens auch nicht zu erklären, aber –«
»Aber? Warum sagst du nichts? Ist etwas mit Quinten?«
»Ja.«
»Was denn? Onno! In Gottes Namen. Doch nicht auch tot?«
»Ich weiß es nicht. Er ist verschwunden.«
»Verschwunden? Hast du die Polizei verständigt?«
»Das hat keinen Zweck.«
»Woher willst du das wissen? Seit wann ist er verschwunden?«
»Seit einer Stunde.«
»Seit einer Stunde? Sagst du ›seit einer Stunde‹? Bist du vielleicht mit den Nerven am Ende, Onno?«
»Das auch. Ich weiß, daß es idiotisch klingt, aber –«
»Hör bitte auf. Wenn er seit einer Stunde verschwunden ist, kommt er in einer Stunde auch wieder zurück. Ich kenne ihn doch, den Jungen, als Kleinkind war er auch immer weg.
Nimm eine Beruhigungstablette, oder versuch zu schlafen. Du mußt verzeihen, mir steht der Kopf jetzt nach anderen Dingen.
Ich
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