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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Wahrgenommene nicht mehr losgelöst vom Wahrnehmenden betrachtet werden könne, da der Wahrnehmende das Wahrgenommene verändere, indem er es wahrnehme. Max wußte, daß sie diese Dinge nicht im geringsten interessierten, aber er tat es trotzdem: wohl für Onno – und sie hatte ihn deshalb lieber, wenn er ohne ihn war.
    Auch sie selbst war nicht gerade gesprächig. Stundenlang konnte sie am offenen Fenster sitzen und in den Vondelpark schauen, in dem Kinder und Hunde ausgeführt wurden, Hippies in fernöstlichen Gewändern singend und blumengeschmückt vorbeitanzten und immer derselbe Junge auf dem Rasen das Jonglieren übte, dabei aber offenbar nur die Kunst des Bückens lernte. Auf der anderen Seite, hinter Sträuchern und Bäumen vom Park aus nahezu unsichtbar, befand sich ein niedriges Gebäude, mehrmals am Tag fuhren Leichenwagen vor, und bedrückt wirkende Menschen gingen ein und aus. Aus irgendeinem Grund fand sie, daß diese Aussicht zu Max paßte: auch in ihm spürte sie eine ähnlich schrille Kombination von Leben und Tod. Er hatte eigentlich immer gute Laune, aber es schien ihr, als fiele das nur so auf, weil er sich von einem dunklen Hintergrund abhob.
    Erst als Max sie einmal danach fragte, erzählte sie ihm etwas über ihre Eltern, wie sie sich während des Bombardements auf Leiden kennengelernt und später ihr Antiquariat aufgebaut hatten. Sie habe, sagte sie, nie das Gefühl gehabt, das Kind dieser beiden Menschen zu sein, die so völlig anders seien als sie, sondern eher ein Ziehkind, ein Findelkind, das eigentlich nichts mit ihnen zu tun habe. Nicht, daß sie romantische Gedanken in dieser Richtung hege, sie brauche nur in den Spiegel zu schauen und sähe sofort ihre Mutter.
    »Das Umgekehrte wird manchmal auch vorkommen«, sagte Max, »daß jemand denkt, seine Eltern sind seine Eltern, und es stimmt gar nicht.«
    Nach diesem einen Mal ganz am Anfang war er ihren Eltern nicht mehr begegnet. Auch er fand, daß er nichts mit ihnen zu tun hatte, und Ada bat ihn nicht darum, obwohl ihre Eltern einige Male hatten durchblicken lassen, daß sie den Freund ihrer Tochter gerne einmal treffen würden. Er wußte, daß sie ihm dankbar war, daß er sie zumindest zwei Tage in der Woche aus dem Haus holte. Und was seine eigenen Eltern betraf: wenn Ada ihn danach gefragt hätte, hätte er ihr seine Geschichte erzählt, da dies aber nicht geschah, rührte er nicht daran.
    Häusliches Glück lag in der Luft! Es gehörte, wenn er allein war, zu seinen Gewohnheiten, in den Zimmern auf und ab zu gehen, um nachzudenken; Ada war die erste, deren Gegenwart ihn nicht davon abhielt. Dieses Aufundabgehen war nicht einfach ein Aufundabgehen, ebensowenig wie es das bei eingesperrten Eisbären oder Löwen ist, sondern wurde von einem genauen geometrischen Muster bestimmt, das ihm selbst vage bewußt war und von dem er keinen Fußbreit abwich. Es wurde von unsichtbaren Linien gebildet, die von seinen Möbeln ausgingen: von Verlängerungen der Seiten, von Diagonalen und Mittelsenkrechten. Seine Stühle, Tische und Schränke waren in Kombination mit den Winkelhalbierenden der Zimmerecken Brennpunkte eines komplizierten Netzwerks, ein imaginärer Garten im Lenôtre-Stil, der ihm die Gelegenheit bot, den Fuß auf viele Stellen zu setzen, aber nicht auf alle.
    Und während er, die Hände auf dem Rücken, auf und ab ging, ertappte er sich manchmal bei Gedanken an die Zukunft.
    Wenn in einigen Jahren die Anlage in Westerbork fertig sein würde, würde er vermutlich noch öfter nach Drenthe fahren müssen als jetzt. Diese trostlosen Abende dort, meilenweit im Umkreis nichts los. Billard spielende Bauerntölpel, komische Frauen, die er kaum verstand und mit denen nichts anzufangen war, weil man mit der Mistgabel ermordet wurde. Wäre es dann nicht schön, wenn Ada ab und zu mitkäme? Sie könnten beim örtlichen Notar ein pied à terre mieten und nach ihrem Geschmack einrichten. Ada würde natürlich auch ihre Arbeit haben, aber mit dem Auto war man in einer Stunde, anderthalb vielleicht, in Amsterdam …
    Seit Bruno klar war, daß Ada einen Freund hatte, war er bei den Proben plötzlich regelmäßig verhindert; sie übte deshalb ein neues Stück von Xenakis für Solo-Cello ein: Nomos alpha. Max störte das nicht bei seiner Arbeit – im Gegenteil: Daß auch sie etwas tat, enthob ihn der Pflicht, hin und wieder etwas zu sagen. Manchmal musizierten sie auch gemeinsam.
    Während des Krieges hatte ihm seine Mutter ab und zu Klavierstunden

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