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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einer Stadt in die andere ging, und nicht nur von einem Land in das andere, sondern von einer Welt in die nächste. Er betrachtete das eingezäunte Brandenburger Tor und spazierte Unter den Linden, wo eine wohltuende Stille herrschte. Der Unterschied zwischen West- und Ost-Berlin war der zwischen dem Amsterdam von 1967 und dem von 1947. Überall an den farblosen Giebeln hingen auf roten Transparenten ausschließlich Parolen und Losungen: Künstler und Kulturschaffende , begeistert mit eurer Kunst die Werktätigen für den Sieg des Sozialismus.
    Passanten warfen Blicke auf seinen französischen Sommeranzug, seine italienischen Schuhe, das amerikanische Hemd, die englische Krawatte; ab und zu wurde er von jemandem angesprochen, der zu einem Kurs von vier zu eins D-Mark tauschen wollte.
    Am Ende der Allee, gegenüber von dem Platz, an dem die Bücherverbrennung stattgefunden hatte, ging er in die Neue Wache: ein kleines, neoklassizistisches Gebäude mit einem Säulenportal, vor dem zwei reglose Soldaten den kichernden Blicken einer Gruppe Neugieriger widerstanden. Drinnen brannte über den Urnen des Unbekannten Soldaten und des Unbekannten Widerstandskämpfers in einem Kristallwürfel ein Ewiges Licht. Den Opfern des Faschismus und Militarismus , stand in goldenen Buchstaben an einer Seitenwand. Aber zur Meditation bekam er keine Gelegenheit: mit sanfter Hand wurde der Saal geräumt, und als er ins Freie trat, näherte sich mit Marschmusik und krachenden Stiefeln die Wachablösung.
    Die Befehle, der Paradeschritt, Körper, die aussahen, als wären sie aneinander befestigt, die schauderhafte preußische Präzision, mit der fünfzig Gewehrschäfte wie ein einziger auf das Pflaster schlugen, das ganze undurchdringliche Zeremoniell entlockte den Berlinern hauptsächlich ein Kichern – der einzige, der merkte, wie seine Augen feucht wurden, war er selbst, denn es ging zwar militärisch zu, war aber doch auch für die Opfer des Faschismus gedacht.
    Mit dem Stadtführer in der Hand irrte er weiter durch die Stadt, und ihm war, als wate er bis zu den Knien in der Geschichte. In der menschenleeren Otto-Grotewohl-Straße, vormals Wilhelmstraße, starrte er schließlich minutenlang gedankenverloren auf den sonnenbeschienenen Rasenplatz, wo früher die Reichskanzlei gestanden hatte. Ein herausragender Tumor markierte die Stelle, wo der Zugang zum Bunker gewesen war; dort unten, tief in der Erde, hatte das Monster schließlich seinen ersten Schuß seit dem Ersten Weltkrieg abgegeben: in den eigenen Mund. Max nickte zustimmend. Das hat man von seinen Gelüsten, dachte er.

    Der Nachtzug nach Katowice wurde zu seiner Freude noch von einer zischend stampfenden, archaisch pfeifenden Lokomotive gezogen. An der polnischen Grenze wurde stundenlang gehalten, immer wieder andere Beamte in anderen Uniformen kamen durch den Gang und schoben die Abteiltür auf; der Zug fuhr zurück, vor, prallte auf andere Waggons, fuhr aus dem Bahnhof heraus, wieder hinein, draußen waren Wachtürme zu sehen, Scheinwerfer, Jeeps mit Soldaten, einen Stiefel halb aus dem Auto. Er fühlte sich vollkommen zufrieden. Endlich war alles anders. In dem spärlichen Licht versuchte er einen Artikel englischer Kollegen über die Entdekkung einer neuartigen Radioquelle, eines Pulsars zu lesen; sie waren so unvorsichtig gewesen zuzugeben, daß sie eine außerirdische Kultur nicht ausschlossen. Aber ihm stand der Kopf nicht nach den technischen Einzelheiten. Bisher hatte er in Fahrtrichtung gesessen, jetzt fuhr er rückwärts nach Polen hinein und hatte das Gefühl, er führe zurück nach Hause.
    Wiederholt kam der Schaffner, mit immer schwärzeren Wechselkursen des Zloty, aber es erschien ihm ratsam, darauf nicht einzugehen; die Bäuerin auf der Bank ihm gegenüber, mit einem Kopftuch und einem schnaubenden Ferkel in einem Korb auf dem Schoß, schien nichts zu hören. Bei Gliwice standen nach und nach alle auf und suchten ihre Sachen zusammen, Max wußte, daß sie nun in Gleiwitz einfuhren, wie die Stadt früher geheißen hatte, an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze, wo Hitler einen ›Zwischenfall‹ als Vorwand inszeniert hatte, um am nächsten Tag in Polen einzufallen: hier hatte alles erst richtig begonnen.
    Er nahm ein Zimmer in einem verfallenen Hotel in Privatbesitz im Zentrum Krakows. Hatte Lysenko vielleicht doch recht? Waren auch Erfahrungen vererbbar? Ihm war, als käme er nach Hause.
    Als er die Balkontüren zum stillen, bewachsenen Hof öffnete, traf

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