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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ihn ein unbekannter und zugleich unbeschreiblich vertrauter Braunkohlegeruch mit einer Temperatur, die genau der seiner Haut entsprechen mußte: es war, als ob sich sein Körper bis zu den Mauern der Gebäude ringsum weitete. Nachher, in der Stadt, versuchte er sich darüber klarzuwerden, daß auch sein Vater hier entlanggegangen war, mit einem Schulranzen aus steifem Leder auf dem Rücken, aber das Bild wollte keine Gestalt annehmen. Das Gymnasium sah aus wie alle Gymnasien, mit ionischen Säulen und einem Tympanon über dem Eingang. In einem Café, wo er zum Kaffee ein Glas Wasser bekam, sah er im Telefonbuch nach, ob noch ein Delius in der Stadt wohnte, ein Cousin oder eine Cousine vielleicht; aber er wußte zugleich, daß die deutschsprachige Bevölkerung schon nach dem Ersten Weltkrieg in den österreichischen Torso gezogen war. Vielleicht hausten ja in Prag, Wien oder Budapest noch Delii. Den Rest des Tages verbrachte er wie ein Tourist, bewunderte die Kathedrale, stand an Grabmalen polnischer Könige und ging mit wollenen Überschuhen über das Parkett von hundert sinnlosen Sälen im Schloß Wawel.
    Am nächsten Morgen fuhr er in aller Frühe mit dem Bummelzug auf dem nördlichen Schenkel des Dreiecks zurück nach Katowice. Unter einem bedeckten Himmel ebene Felder in trostloser Verlassenheit, ärmliche Dörfer, Kinder, die auf dem Hof hölzerner Bauernhäuser winkten, trübsinnige Wälder, die allmählich übergingen in eine schwarze Industrielandschaft mit Abraumhalden und Fabriken, und schließlich eine unübersehbare Gleisanlage mit Güterzügen. Einige Stunden lang irrte er ziellos durch die stillen Straßen, atmete den schweren, dampfigen Geruch von Kohle und Schwefel und sah Frauen, die als Straßenkehrerinnen arbeiteten. Ob sein Kind eines Tages so durch Amsterdam und Leiden gehen würde?
    Er ertappte sich dabei, daß er sofort auch an Ada dachte. Bedeutete das, daß er zu ihr zurückgehen sollte? Nachdem sie gegangen war, hatte er keinerlei Kontakt mehr zu ihr gehabt und sie eigentlich schon halb vergessen – was wäre, wenn sie anriefe und sagte, sie sei schwanger von ihm? Was würde er tun? Aber das war unmöglich, dafür sorgte die Pille. Er schob den Gedanken beiseite und ging zurück zum Bahnhof.
    Auf der Grundlinie des Dreiecks brachte ihn der Zug nach Bielsko-Biala, fünfzig Kilometer weiter südlich. Aber auch in dieser Stadt, in der seine Großmutter geschrien hatte bei der Geburt seines Vaters, vernahm er kein Echo. Das Gefühl einer heimatlichen Vertrautheit, das er zunächst gehabt hatte, war weg. Vielleicht hatte Lysenko doch nicht ganz recht. Nur eine Stunde später fuhr er auf dem südlichen Schenkel des Dreiecks zurück nach Krakow, sah den Krähen auf den Ackern und den Pferden und Bauernkarren auf den Landstraßen zu und fragte sich, ob er gut daran getan hatte, auf Onno zu hören.
    Am dritten Tag fuhr er noch einmal in Richtung Katowice, stieg in Trzebinia um und fuhr mit klopfendem Herzen mitten in das Dreieck hinein, nach Oswieçim, auf dem Schnittpunkt der Winkelhalbierenden. Auch dort, unter einem diesigen weißen Himmel, ausgedehnte Gleisanlagen mit rangierenden Zügen, Heizer, die sich neben ihren Feuern aus stampfenden Lokomotiven beugten und auf die Züge schauten, die endlosen Reihen geschlossener Viehwaggons. Ein Taxi brachte ihn in fünf Minuten zum Eingang des Lagers.
    Rostbraune Gebäude, die durch die Bäume schimmerten.
    Der hohe, viereckige Schornstein des Krematoriums. Arbeit macht frei. Düster sah er auf den schmiedeeisernen Spruch über dem Tor. War das nationalsozialistischer Zynismus, jedenfalls war ihm das immer so vorgekommen, oder stand das schon da, als dies hier noch eine österreichisch-ungarische Kavalleriekaserne in der Nähe der früheren Grenze zwischen Habsburgischem Reich und Hohenzollern war? Vielleicht war sein Vater noch Teil der Garnison gewesen, die hier ihren Standort hatte.
    Es herrschte eine klamme, windstille Hitze. An einem Stand aß er eine stark gewürzte Wurst auf einer Scheibe Schwarzbrot, kaufte an einem anderen Stand einige Broschüren und ging durch das Tor. Er hatte das Gefühl, als ob er auf merkwürdige Weise hinter sich selbst herging – daß nur sein Körper über den geharkten Kies schritt, daß er selbst aber noch lange nicht hier ging, daß es noch Jahrzehnte dauern würde, bis er hier tatsächlich gehen würde. Wachtürme. Doppelreihen gebogener Betonpfähle mit Stacheldraht an Isolatoren. Halt! Stoj! Es war alles

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