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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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kleiner, als er gedacht hatte. Ein stilles Dorf aus dreiunddreißig Ziegelsteingebäuden, drei Reihen zu je elf, wo Zehntausende totgeschlagen, erschossen, tot-gespritzt, zu Tode gefoltert worden waren und mit Gas an verwundeten russischen Kriegsgefangenen und Kranken aus den Krankenhäusern der Umgebung experimentiert wurde – und das war noch immer nicht der eigentliche Ort. Steine, stickige Keller, dunkle Höhlen, Eisenringe an den Wänden, Ketten, rostige Operationstische. Einige Blöcke waren als Museum eingerichtet. Er sah ein infernalisches Terrarium von zwanzig Metern Länge und drei Metern Tiefe, voll mit Frauenhaar, das eine uniforme, mattgraue Farbe angenommen hatte. War auch das Haar seiner Mutter dabei? Ein anderes Terrarium mit abgetretenen Kinderschuhen, mit Brillen, mit Zahnbürsten, mit künstlichen Gliedmaßen. Da lag es. War es tatsächlich so, daß letztendlich nichts mehr zählte? War alles möglich und konnte alles getan werden, weil es eines Tages unwiderruflich beiseite gelegt würde? Konnte die himmlische Seligkeit im Himmel nur wegen dieses verbrecherischen Gedächtnisschwundes genossen werden? Sollten die Glückseligen dafür nicht mit der Hölle bestraft werden? Alles war offenbar bis in alle Ewigkeit verpfuscht, nicht nur hier, sondern auch bei tausend vorangegangenen und nachfolgenden Gelegenheiten, an die keiner mehr dachte. Ein Himmel war unter diesen Umständen unmöglich, nur die Hölle gab es vielleicht.
    Wer an Gott glaubte, dachte er und schaute in die riesige Vitrine mit Spielzeug, sollte vor Gericht gestellt werden – an die schwarz geteerte Hinrichtungswand, die er neben Block gesehen hatte.
    Er spürte, daß er auf dem besten Wege war, sich selbst etwas anzutun. An einem Stand außerhalb des Lagers trank er ein Glas lauwarmes Mineralwasser, blätterte in den Broschüren, sah sich die Zahlen und Grundrisse an und machte sich auf den Weg zu einem Gehöft einige Kilometer weiter, wo das Vernichtungslager Auschwitz II lag. Er hätte auch ein Taxi rufen können, aber da auf diesem Weg Abertausende in den Tod getrieben worden waren, fand er, daß er zu Fuß gehen sollte, wie die Christen über die Via Dolorosa. Verlassen wand sich die schmale Straße zwischen Stoppelfeldern und gelegentlichen Birkenwäldchen dahin, hinter denen Fabrikschornsteine und die Türme von Minenschächten aufragten. Es war stickig; schwitzend und leicht gebeugt sah er auf die Steine, über die er ging, während um ihn herum nicht nur die Landschaft versank, sondern allmählich auch alles, was ihn band: Amsterdam, Onno, seine Freundinnen, seine Kollegen, seine Arbeit, die Sternwarte, die absurden Tiefen des Weltalls. Nur er selbst blieb übrig, so wie er jetzt da über die Pflastersteine zwischen Oswieçim und Brzezinia ging, im Mittelpunkt seines Teufelsdreiecks. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, wurde er immer mehr erfüllt von dem Bewußtsein, daß es ihn gab, daß er existierte, hier, jetzt, daß er jetzt hier der war, der er war: aber warum? War er selbst vielleicht diese Frage, dieses Geheimnis? War die Frage die Antwort und die Antwort die Frage?
    Er sah, wie sich seine Schuhe abwechselnd vorwärts bewegten, und plötzlich nahm er die Drehung der Erde wahr: er mußte gehen, um auf derselben Stelle zu bleiben. Nach einer Weile nahm die Drehung langsam zu, und er mußte schneller gehen, um sie auszugleichen, und auf einmal bekam er das Gefühl, als würde er vornüber fallen, schwindlig blieb er stehen und sah auf. Er stand an einer Kreuzung mit einem sandigen Feldweg voller Wagenspuren. Einige hundert Meter weiter führte eine Brücke über ein Eisenbahngleis, und wiederum einen Kilometer weiter, niedrig und breit im diffusen Sonnenlicht, lag das Zufahrtsgebäude von Auschwitz-Birkenau: anus mundi.
    Hier war es. Mit seinem kleinen Turm über dem Tor sah es aus wie ein monströser Raubvogel, der sich mit gespreizten Flügeln niedergelassen hatte. Darüber war der Himmel Tag und Nacht rot gewesen von den brennenden Männern, Frauen und Kindern; ringsum mußten überall noch Spuren ihrer Asche in den Ackern liegen. Es gab keinen Verkehr; die Stille war nur erfüllt von Vogelgezwitscher und pfeifenden Lokomotiven in der Ferne, es duftete nach warmen Gräsern, und dieser Duft vermischte sich mit einem undefinierbaren chemischen Geruch. Das Gebäude in seiner erbarmungslosen Symmetrie sah ihn reglos an. Als er sich in Bewegung setzte, bemerkte er auf der anderen Seite der Kreuzung ein kleines

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