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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Marienbildnis, das in eine Art Vogelhaus gestellt worden war. Die Madonna hatte einige verdorrte Zweige in den Händen, und ihre Augen waren nach oben gedreht mit diesem Blick, den er – wenn er sich aufrichtete – so oft unter sich auf seinem Kopfkissen gesehen hatte. Im selben Augenblick packte ihn die Raserei. Ohne zu überlegen oder sich auch nur umzusehen, rannte er hin, riß die hölzerne Figur vom Sockel, nahm sie am Kopf und schleuderte sie so weit er konnte ins Dickicht.
    Mit pochendem Herzen ging er weiter, über die Eisenbahnbrücke, und sah das Lager mit jedem Schritt näherkommen: ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gab. Dies war der Altar, die eigentliche Kraftzentrale des Faschismus. Gab es irgendwo auf Erden einen Ort, an dem im selben Maße das Gute getan worden war wie hier das Böse? Und wenn das die Filiale der Hölle auf Erden war, wo war dann die des Himmels? Einen solchen Ort gab es nicht, es gab nur die Hölle.
    Dieser Ort war das genaue Gegenteil des Paradieses, auch wenn es das Paradies nie gegeben hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, daß es in dem rötlichen Backsteinbau zwei Eingänge gab: einen in der Mitte, durch den die Schienen liefen, und links davon einen für den sonstigen Verkehr. Hunderte von Metern nach links und rechts doppelte Reihen von Betonpfählen mit elektrisch geladenem Stacheldraht, vier Meter hoch, in kurzen Abständen von Wachtürmen unterbrochen. Durch das Schienen-Tor, das aussah wie die Öffnung eines Krematoriumofens, wollte er das Lager betreten, aber es war, als ob plötzlich eine unsichtbare Mauer niederkam: er durfte nicht hineingehen.
    Die verfluchte Erde, wo Millionen von Menschen getötet worden waren, war heilig geworden: er durfte sie nicht betreten.
    Auf der Schwelle sah er über das Areal aus Schutt und Unkraut. Es wirkte wie ein in aller Eile verlassenes Schlafzimmer, mit nicht gemachtem Bett, alle Schubläden und Schränke offen, und überall Kleider am Boden. Nirgends ein Mensch. Im Lager gabelten sich die Schienen einmal, und dann noch einmal; in den langen Zwischenräumen hatten die Selektionen stattgefunden, die einen mußten sofort sterben, die anderen erst später. Auf der linken Seite der Lagerstraße standen Reihen von Holzbaracken, rechts davon nur noch die steinernen Schornsteine. Hinten, am Ende der Schienen, sah er links und rechts die Ruinen der gesprengten Krematorien und Gaskammern; die Rückseite des Lagers, dieser rechteckigen Opferschale, war zu weit weg, als daß er sie hätte sehen können.
    Er ging in die Hocke und legte die rechte Hand auf die verrosteten Schienen. Über diese Schienen war sie hineingefahren. Ihm war, als hielte eine reglose Stille ihren Einzug in ihn, nicht er ging in das Lager, sondern das Lager in ihn. Schlächter und Opfer – verschwunden, sein Vater genauso wie seine Mutter. War er selbst dann nicht die Personifikation des Lagers als Ganzes?
    Er beschloß, langsam um die viereinhalb Millionen Quadratmeter zu gehen. Auf jedem Quadratmeter stand ein Toter.

13
Aufräumen
    Zur selben Zeit, in der Max seinen polnischen Rundgang von acht Kilometern machte, überwand Ada ihr Zögern und rief Onno an, um ihn zu fragen, wo sich sein Freund herumtrieb. Max hatte sich ihr gegenüber wie ein Schuft benommen, andererseits gab es nun einmal diese merkwürdige Busenfreundschaft ; vielleicht hatte an dem Vormittag wirklich etwas Wichtiges auf dem Programm gestanden – obwohl er ihr das ruhig hätte sagen können. Auf jeden Fall war er nicht aus ihren Gedanken verschwunden, und auch sie hatte vielleicht etwas zu drastisch reagiert.
    Onnos Stimme klang überrascht, aber er konnte ihr nicht weiterhelfen.
    »Irgendwo in Polen, oder in der Tschechoslowakei, oder in Ungarn – du weißt doch, mit wem du es zu tun hast. Schrecklich ist das alles.«
    Mit wem sie es zu tun hatte? Der Sinn dieser Bemerkung entging ihr.
    »Wann kommt er wieder zurück?«
    »In etwa drei Wochen, glaube ich.«
    »Hat er noch über mich gesprochen?«
    »Ich hatte den Eindruck, daß es ihm leid tat, daß es schiefgegangen ist zwischen euch beiden. Mir übrigens auch. Du hattest einen positiven Einfluß auf diesen Irren – die läuternde Wirkung der Musik. Wie steht’s mit deinem Duo?«
    »Das gibt es eigentlich nicht mehr. Bruno hat keine Perspektive mehr gesehen. Ich habe mich gerade beim Concertgebouw-Orchester vorgestellt.«
    »Und?«
    »Ich werde benachrichtigt.«
    »Und wieso das alles so plötzlich?«
    »Ich will Geld verdienen und zu

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