Die Entdeckung des Himmels
Hause ausziehen. Und du?
Fährst du nicht in Urlaub?«
»Ich? In Urlaub fahren? Glaubst du wirklich, daß ich mich derartig spießigen Vergnügungen hingebe? Schande! Du bist doch auch nicht im Urlaub?«
»Weil ich’s mir nicht leisten kann.«
»Von wo aus rufst du an?«
»Aus dem Concertgebouw.«
»Laß uns einen Kaffee bei Keyzer trinken, an der Ecke. Ich komme gleich und werde mein versengendes Licht über diesen böhmischen Pferdedieb leuchten lassen.«
Von ihrem Tisch am Fenster aus sah sie, wie er den Museumplein überquerte. Max hätte sie sofort gesehen, vermutlich noch eher als sie ihn; aber Onno sah vollkommen in sich selbst versunken auf die Pflastersteine und war mit den Gedanken offenbar ganz woanders. Seine große, plumpe Gestalt flößte ihr einen vagen physischen Widerwillen ein, aber zugleich rührte er sie auch. Sie konnte sich keinen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen Max und Onno: Max, dem nichts entging, der überall zugleich war, und Onno, der immer auf einen Punkt konzentriert war und den Rest der Welt nie wahrnahm.
Er schien sich zu freuen, sie zu sehen. Zum ersten Mal bekam sie sogar einen unbeholfenen Kuß auf die Wange.
»Worüber hast du so selbstversunken nachgedacht?«
»Möchtest du es wirklich wissen?«
»Wenn es nicht geheim ist …«
»Es ist schrecklich geheim, aber ich werde es dir erzählen.
An ein magisches Quadrat.« Er nahm eine Zeitung vom Lesetisch, setzte sich ihr gegenüber und schrieb auf den Rand:
m a x
a d a
x a m
»Schau dir diese Kreuzigung einmal ganz genau an. Ich fragte mich, was die Diagonale xdx und mdm bedeuten, aber dafür habe ich noch keine Lösung. Mdm ist vielleicht die Abkürzung für madman oder für madame oder für beides, aber wofür steht xdx ? Etwas aus der Differentialrechnung vielleicht, aber davon versteht Max mehr als ich. Erzähl, wie geht es dir?
Das letzte Mal, daß wir uns gesehen haben, war an diesem wahnsinnigen Abend, als du aufgetreten bist.«
»Es ist auch das erste Mal, daß ich seitdem wieder in Amsterdam bin.«
»Was ist denn passiert, daß es zwischen euch so plötzlich aus war? Mir kam das eigentlich ziemlich idyllisch vor.«
»Hat er dir das denn nicht erzählt?« fragte Ada erstaunt.
»Ich habe ihn nicht danach gefragt.«
Offenbar, dachte Ada, erzählten sie einander doch nicht alles , wie Max behauptet hatte.
»Dann sage ich es lieber auch nicht.«
Onno nickte und rührte in seinem Kaffee.
»Ja, und da sitzen wir nun. Max ist auf der Suche nach seinen Wurzeln, und wir sitzen hier wie zwei Waisen.«
»Was für Wurzeln hat er denn?«
Ungläubig sah Onno sie an.
»Hat er nie darüber gesprochen?«
»Er redete nie sehr viel.«
Onno überlegte, ob er es erzählen durfte. Da aber Max seine Geschichte nicht unbedingt geheimhalten wollte, und weil er fand, daß Ada ein Recht darauf hatte, erzählte er ihr die Tatsachen – vom Krieg bis zu ihrem Besuch beim Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation.
Als Ada von diesem Besuch hörte, ging ihr ein Licht auf.
Mach’s dir selbst. Zugleich war sie weiterhin der festen Überzeugung, daß er nicht so reagiert hätte, wenn ihn ein anderer abgeholt hätte: es war passiert, wie es passiert war, weil es Onno war, der geklingelt hatte – Onno, der vielleicht wieder gehen würde, wenn nicht sofort geöffnet wurde, und dann nie mehr wiederkommen würde. Aber auch das verstand sie auf einmal: seine Eltern waren weggegangen und nie zurückgekehrt. Schweigend trank sie ihren Kaffee. Max war für sie plötzlich ein anderer geworden, als ob sie am Morgen die Vorhänge beiseite geschoben hätte und die vertraute Aussicht über Nacht eingeschneit gewesen wäre: alles war dasselbe, und alles war anders. Auf eine Weise, die sie wunderte, hatte er ihr gefehlt in ihrem stillen Hinterzimmer in Leiden, nicht körperlich, denn das bedeutete ihr noch immer nicht viel, sondern einfach in seiner Anwesenheit. Jetzt allerdings stellte sich heraus, daß diese Anwesenheit zugleich auch eine Abwesenheit gewesen war; all die Wochen hatte er sie nicht für würdig befunden, ihr zu zeigen, wer er eigentlich war. Oder war es unfair, so zu urteilen über jemanden, der Erfahrungen hatte machen müssen, von denen sie sich keine Vorstellung machen konnte? Unvorstellbar: ihr eigener Vater hätte ihre Mutter umbringen lassen und wäre dann selbst erschossen worden … Undenkbar. Max und sie waren nicht mehr als dreizehn Jahre auseinander, aber für sie war
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