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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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nicht weiter als bis zu den Knien zu sehen waren, stand ein Schreibtisch, auf dem sich Unterlagen, aufgeschlagene Bücher, Zeitschriften, zerfledderte Zeitungen, Broschüren, Kopien, Kontoauszüge, Umschläge und Rechnungen türmten, alles durcheinander und obendrein garniert mit überquellenden Aschenbechern, einer leeren Milchflasche, einem aufgeplatzten Paket Zucker, einem Kofferradio und einem Stück ranzig gewordener Butter auf Stanniolpapier; auf dem Boden und in den durchgebogenen Bücherregalen an den Wänden, auf einer durchgesessenen Couch und einem Ölofen setzte sich das alles fort bis ins Hinterzimmer, wo es vor einer Matratze endete, auf der das Laken die Farbe des jahrhundertealten Firnis der Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle hatte.
    »Ja«, sagte Ada und trat ein, »wenn etwas absolut unmöglich ist, dann ist es das hier.«
    »Findest du es etwa unordentlich hier?«
    »Was soll ich sagen? Es sieht einfach anders aus als bei deinem Freund.«
    »Aber ich«, sagte Onno, »lebe auch nicht mit dem Gefühl, daß ich jeden Augenblick fliehen können muß. Für ihn ist jeden Augenblick alles möglich, und dann muß er sofort das finden können, was er mitnehmen will. Ich finde nie etwas.«
    Ada hob einen antiken braunen Folianten mit beschädigtem Lederrücken vom Boden auf und las laut den Titel vor, der in einem Dutzend verschiedener Druckschriften geschrieben war: »Vollständiges Hebräisch-chaldäisches Rabbiner-Wörterbuch zum Alten Testament , der Thargumim , Midraschim und
    dem Talmud , mit Erläuterungen aus dem Bereiche der historischen Kritik , Archäologie , Mythologie , Naturkunde , etc. und unter besonderer Berücksichtigung der Dicta messiana als Verbindung der Schriften des alten und neuen Bundes. Ist das spannend?« fragte sie und sah auf.
    »Spannender, als du denkst. Das ist die Art von Büchern, die die Heinzelmännchen für mich zusammenstellen. Nachts, wenn ich schlafe.«
    Als Lesezeichen steckte eine moderne Broschüre zwischen den Seiten: Sozialismus und Demokratie. Während sie das Buch vorsichtig auf einen Stapel legte, mußte sie plötzlich an den Laden ihres Vaters denken, es gab ihr ein häusliches Gefühl. Sie öffnete das Fenster, und ihr Blick fiel auf zwei Hochglanzfotos, die mit Reißnägeln an den Fensterrahmen befestigt waren: eine Art Hüpfb ahn, die sich von außen nach innen im Uhrzeigersinn drehte.
    »Ist er das?«
    »Das ist er.«
    Summend, mit einer Haltung, als würde sie ganz einfach lesen, was da stand, ließ sie den Blick über die Symbole schweifen. Onno sah auf die zierliche Gestalt im Gegenlicht, Auge in Auge mit diesem Ding, von dem er jetzt schon so lange gequält wurde. Warum eigentlich nicht, dachte er. Es war aus mit Max, und der war nicht gerade zerschmettert gewesen deswegen; außerdem hatte er in ihrer Zeit reichlich Freundinnen gehabt. Er selbst war kein solcher Phantast, der geil drauflos ging, er hatte sich immer verführen lassen , auch mit Helga war es so gewesen. Es passierte nicht so oft, daß jemand sich für ihn interessierte; aber wenn es geschah, dann war er nicht nur wehrlos, sondern empfand das Interesse der anderen als seine eigene Liebe zu ihr. Genau so und nicht anders.
    Er war in Ada verliebt: wie sie da stand mit ihrem schwarzen Haar und die Geheimschrift betrachtete. Aber er sollte sich Zeit lassen. Er hatte sie nie ohne Max gesehen, auch nicht in seiner Phantasie: sie war ein Teil von ihm, und das mußte verschwinden. Es stand fest, daß er nicht gleich heute mit ihr ins Bett gehen würde. Dafür mußte es allerdings auch erst frisch bezogen werden.
    Sie drehte sich um und nahm das Zimmer wieder in Augenschein. Es gab nur einen einzigen schönen Gegenstand: eine üppig verzierte chinesische Truhe aus dunklem Holz, mit Griffen und einem kupfernen Schloß; als sie den Deckel anhob und einen Blick auf die Kleider und Schuhe warf, stieg ihr ein schwerer Duft von Kampfer in die Nase.
    »Gibt es hier irgendein System?« fragte sie im Ton von jemanden, der sich an die Arbeit macht. »Damit ich weiß, wie ich aufräumen soll.«
    »Es gibt hier kein System. Hier herrscht das wüste Chaos des Genies.«
    Es stimmte nicht ganz. Sie ging ins hintere Zimmer, wo zwischen einem überquellenden Bücherregal und einem widerlich schmutzigen Waschtisch gegenüber dem Bett zahllose karierte Zettel auf die Tapete geheftet waren: sorgfältig in senkrechte und waagrechte Spalten unterteilt, mit Aufschriften wie: Männlich? Weiblich? Nominativ.

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