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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Onno –«
    Aber das hörte er schon nicht mehr, ich sorgte dafür, daß eine ganz andere Kraft in ihm arbeitete, die sich nicht um ihn kümmerte. Sie spürte, wie er in sie eindrang, und über seine Schulter sah sie, daß eine blutrote, monströse Mondsichel aufgegangen war: in ihrem ersten Viertel lag sie fast hintüber am Horizont.

Der Auftrag
    In diesem Augenblick sagte ich:
    Funke! Ja, du! Treibe in langsam sich drehenden Parallelepipeden auf mich zu, durch dieses Licht, das weißer ist als weiß und hier von allen Seiten erstrahlt und erklingt, von dem wir umgeben und erfüllt sind, selbst Teil von ihm, Licht im Licht, Harmonie in Harmonie. Wer will denn weg aus diesem pneumatischen Areal, wo jeder Teil mit dem Ganzen in eins fällt, wo die Gesamtheit in jedem Teil ist, und wo bald hier, bald dort Figuren Gestalt werden und vergehen, Dreiecke, Kreise, Ellipsen, Hyperbeln, Kugeln, Kegel, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, wo purzelnde Sphäroiden aufleuchten und zerfließen in der unendlichen Harmonie des Unendlichen Lichts, in dem du ein singulärer Punkt bist, nein, eine harmonisch klingende Saite des Lichts. Kannst du hier weg? Schau, dort, bei dem konvexen Polygonsektor, da ist einer: plopp, weg, es erzittert noch etwas, ein schwaches Nachbild, eine kleine Stille, dann schließt sich das Licht, und es ist, als sei nichts geschehen. Aber es ist etwas geschehen. Schau dich um, du siehst es überall, ununterbrochen. Wohin gehen sie? Schau nur genau hin – du siehst auch Funken zurückkehren in das Licht: da, und da, und da.
    Gibt es also noch etwas anderes als diese ewige Domäne? Sieh jetzt in dich hinein, in dieses gebündelte Licht, das du bist, wo nicht einmal eine Nadel mehr Platz hat – ist da nicht gerade doch noch eine Nadel dazwischengekommen? Und ist diese Nadel nicht eine Art unbestimmtes Verlangen, das immer bei dir ist und das dir deshalb nicht bewußt ist, genausowenig bewußt ist wie die leuchtende Harmonie, die du bist und einen Teil davon ausmachst? Eine Art Heimweh, obwohl du nie woanders gewesen bist als hier? Sieht es nicht so aus, als ob sogar die Vollkommenheit nicht vollkommen ist? Das Licht nicht ganz leuchtend und die Harmonie nicht ganz harmonisch? Ja, du solltest es jetzt wissen: diese Welt ist nicht die einzige. Es gibt noch eine andere. Ich kann es nicht beweisen, du kannst es nur glauben, du mußt den Schritt wagen, und erst dann wirst du es wahrlich erfahren. Es gibt eine Erde. Die Erde existiert – als der innere Kerker im Reich der Archonten. Es hat keinen Sinn, dir viel dar-
    über zu erzählen, oder nur wenig, denn du würdest es nicht verstehen. Du würdest nicht einmal verstehen, was du nicht verstehst, denn du weißt noch nicht, was ›nicht‹ ist. Deshalb ist es auf der Erde nicht immer hell – aber auch das übersteigt dein Verständnis bereits. Ich kann genausogut nichts sagen, aber ich sage es trotzdem: vielleicht aus Mißgunst, weil ich dort nie werde wohnen können. Aus einem ebenso erklärbaren wie rätselhaften Grund ist es dort manchmal hell und manchmal dunkel, das irdische Licht der Sonne ist die pure Finsternis im Vergleich zu unserem Licht. Es ist eigentlich der Schatten unseres Lichts, und der Schatten dieses Schattens ist das Gift der irdischen Finsternis. Mir ist klar, daß es nicht besonders attraktiv ist, in diese unreine, verwirrte Welt zu gehen, aber ich will niemandem etwas vormachen, auch wenn er mich nicht versteht.
    Und gerade weil du mich nicht verstehst, werde ich nun das tiefste Geheimnis enthüllen. Wie in unserem Licht der Keim der Finsternis ruht, so neigt sich die Finsternis zu unserem Licht und liebkost es. Indem man hingeht, bringt man Licht dorthin, und die einzige Möglichkeit, Licht dorthin zu bringen, ist, dorthin zu gehen. Diese kosmische Mesalliance enthält letztendlich auch den Sinn unserer Welt. Das heißt, erst durch den Aufbruch zu dieser Region des schwarzen Lichts, zu Lüge, Betrug, Gewalt, Mord, Krankheit und Tod, gibst du dir selbst einen Sinn.
    Für bei weitem die meisten der unendlich vielen Funken – wenn ich so sagen darf – ergibt sich diese Gelegenheit nie, denn sie sind für Gelegenheiten vorgesehen, die sich nie ergeben werden.
    Für sie und ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit wird die Ewigkeit nie Platz machen. Du aber gehörst zu dieser kleinen, erlesenen Schar derer, die an die Reihe kommen. Es ist schon vieles in die Realisierung investiert worden – mehr als du, zum Besten deiner Gemütsruhe, je wissen wirst.

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