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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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an.«
    »Onno! Was ist los?«
    Es blieb kurz still. Er wußte genau, daß Onno sich jetzt halb aufsetzte und auf einen Ellbogen stützte, um zu sehen, wie spät es war.
    »Ich kann mir selbst nicht mehr unter die Augen treten. Ich bin es nicht wert, daß eine hochstehende Person wie du mit mir spricht. Mehr sage ich nicht. Aber selbst das muß unter uns bleiben. Kann Ada dich jetzt hören?«
    »Nein, sie sitzt auf der Terrasse. Wir sind hier in einer wundervollen Datscha am Meer, mit Guerra und Jesus, von Bediensteten umgeben, na ja, du weißt schon, nur in einem kommunistischen Land können Leute wie du und ich wie Kapitalisten leben. Außerdem hat die Revolution mir als künftigen Führer der niederländischen Volksrepublik eine atemberaubende Frau mit einer Maschinenpistole zugewiesen.«
    »Ja, ich höre es schon, deine tiefsten masochistischen Instinkte werden wieder befriedigt. Ich hätte nie auf dich hören dürfen, wir hätten niemals hierherfahren dürfen, denn hier ist alles ernst, und dieser Ernst hat einen Nekrophilen aus mir gemacht. Ich bin ein moralisches Wrack, nur der Schlaf kann mich noch vergessen lassen.«
    »Und das ist alles in der Kirche passiert? Hast du vielleicht ins Weihwasser gespuckt?«
    »Ja, ich habe ins Weihwasser gespuckt!«
    »Onno, du willst mir doch jetzt nicht erzählen, daß du mit einer anderen Frau geschlafen hast?«
    »Ich will dir überhaupt nichts erzählen, du Widerling.
    Wenn ein außergewöhnlich zartfühlender Geist wie ich sich Vorwürfe macht, denkst du nur an das eine. Mein Problem ist ganz anderer, spiritueller Art. Ich habe mich verschlingen lassen – als Opfer meiner eigenen Güte. Mein edles Gemüt wird eines Tages mein Untergang sein. Und jetzt werde ich mich … ich meine, jetzt werde ich auflegen, ich bin fix und fertig.
    Richte Ada aus, daß ich morgen früh gleich zu ihr komme, um mich ihr zu Füßen zu werfen. Nein, sag das letzte nicht dazu.
    Ihr kommt doch heute abend zurück?«
    »Um zwölf etwa werden wir wieder dasein.«
    »Na dann bis morgen.«
    »Good night , sweet prince.«
    Er legte auf und blieb in Gedanken versunken stehen. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er tatsächlich Ada betrogen, am hellichten Tag? Eigentlich undenkbar. Aber selbst wenn es so war, blieb seine Geschichte unverständlich, auch nach Abzug aller Übertreibungen. Was meinte er mit ›nekrophil‹? Hatte er sich etwa dazu verleiten lassen, zur Kommunion zu gehen?
    Hoc est enim corpus meum? War er mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen zum Altar gegangen und hatte dort seine Zunge herausgestreckt? Um jemandem einen Gefallen zu tun?
    Dem Priester? Weil er vielleicht der einzige in der Kirche gewesen war? Sicher war, daß Onno immer in Richtung Wahrheit übertrieb, nie von ihr weg, und daß ihn wirklich etwas quälte, und daß er, Max, deshalb besser nicht darauf zurückkommen sollte, wenn Onno nicht von sich aus damit anfing.
    Er ging auf die Veranda, der Hausmeister, die Köchin und Jesus hatten sich dazugesetzt und unterhielten sich leise im Dunkeln. Ada war verschwunden. Marilyn sagte, sie sei noch einmal ins Meer gegangen, »um Abschied zu nehmen«.
    »Worauf warten Sie noch?« sagte Guerra und deutete auf das Rauschen der Brandung in der Finsternis.
    Ja, warum nicht? Er war noch nie nachts im Golf von Mexiko geschwommen, und auch er würde in einigen Tagen wieder seinen englischen Regenschirm mit dem Bambusgriff an der Tür auf- und zumachen, als kämpfe er mit einer riesigen Fledermaus. Im Bungalow zog er seine klamme Badehose an und ging die Stufen zum Strand hinunter.
    Die nackten Füße versanken im Sand, der noch immer warm war von der Sonne, und über ihm entfaltete sich der mondlose Sternenhimmel mit einer Geste, die er fast meinte hören zu können: wie ein herrlicher Akkord des gesamten Orchesters. Der Anblick des Himmels aus seinem Hotelzimmer im fünfundzwanzigsten Stock nahm sich daneben, fahl vom Licht der Stadt und von den Abgasen, wie eine Platte auf einem alten Koffergrammophon aus. Er hielt inne. Mit dem Gefühl, als sei sein Kopf die Kuppel eines Observatoriums, ließ er seinen Blick umherschweifen. Klar und satt strahlte Mars zwischen den funkelnden Sternen, und im Kreuz des Orion schimmerte Messier 42 wie ein eingetrockneter Spermafleck auf dem Hosenschlitz eines Smokings. Die Sterne im Süden, unterhalb von Beteigeuze und Rigel, die in nördlicheren Breiten auch im Sommer nicht sichtbar waren, fügten sich nicht zu den geometrisch-mythischen

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