Die Entfuehrten
Wohnzimmer geübt hast, obwohl es jetzt erst zehn vor vier ist?«)
Normalerweise hasste Jonas diesen strengen Ton undden eisigen Blick. Aber jetzt hätte er sie am liebsten angefeuert.
»Na, na«, sagte Mr Reardon und beugte sich wieder vor. »Ich kann verstehen, dass Sie das vielleicht beunruhigt. Der Name FBI macht den Menschen mitunter Angst. In vielerlei Hinsicht war die Immigrations- und Naturalisierungsbehörde viel enger damit befasst. Aber Dienstgeheimnisse sind nun mal Dienstgeheimnisse.«
»Wovon reden Sie da?«, fragte Dad. »Von der Einwanderungsbehörde? Wollen Sie damit sagen, dass Jonas in einem anderen Land zur Welt gekommen ist?«
War es das, was
Immigrations- und Naturalisierungsbehörde
bedeutete?
»Ich bin Amerikaner!«, rief Jonas aus, ehe er sich zurückhalten konnte.
»Natürlich bist du das«, sagte Mr Reardon. »Alle deine Papiere sind in Ordnung. Im Moment. Ich habe das überprüft.«
Er lächelte, doch es war ein gefährliches Lächeln. Jonas verstand nicht genau, was vor sich ging, aber das konnte auch daran liegen, dass ihm mit einem Mal ganz schwindelig war. In seinem Kopf überschlugen sich Gedanken wie: Ich habe in der Schule zigmal den amerikanischen Treueschwur abgelegt – zählt das denn überhaupt nicht? Und die Nationalhymne, die ich bei den Baseballspielen immer mitzusingen versuche? Was kann ich dafür, dass ich mit der Stimme nicht hoch genug hinaufkomme . . .
»Ist Jonas . . .«, sein Vater atmete tief durch, »hat man ihn eingebürgert oder ist er gebürtiger Amerikaner?«
Immer noch lächelnd zuckte Mr Reardon die Achseln.
»Warum ist das so wichtig?«
»Ist es nicht . . . jedenfalls nicht in Bezug auf die Liebe, die wir für unseren Sohn empfinden«, sagte Mom.
Zu Jonas’ Schwindelgefühlen gesellten sich nun auch noch Magenbeschwerden hinzu. Er würde es nicht ertragen, wenn sie in Anwesenheit von Mr Reardon rührselig wurde. Einen Moment lang konnte er nicht einmal mehr zuhören. Als er sich zwang, wieder hinzuhören, sagte Mom gerade: »Aber vielleicht wird es für
Jonas
irgendwann einmal wichtig werden. Wenn er in einem anderen Land zur Welt gekommen ist, wird er vielleicht eines Tages hinreisen oder in der Schule ein Projekt zur Geschichte dieses Landes übernehmen wollen.«
Bei dem Wort
Schule
überschlug sich ihre Stimme und Jonas kam zu dem Schluss, dass das hier nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit Situationen, in denen sie ihn oder Katherine bei einer Lüge zu erwischen versuchte. Dabei überschlug sich ihre Stimme nie.
Mr Reardon beugte sich weiter vor. Seine Hände umfassten ein geschlossenes Laptop – den einzigen Gegenstand auf dem riesigen Schreibtisch – und schoben die rechte Ecke ein winziges Stückchen vor, als wollten siedas Gerät mit dieser mikroskopischen Bewegung perfekt an den Tischkanten ausrichten.
»Ich will Ihnen ein hypothetisches Beispiel nennen«, sagte Mr Reardon. »Sagen wir, es gäbe einen internationalen Babyschmuggelring. Viele Menschen in Entwicklungsländern bekommen Kinder, die sie nicht ernähren können; und viele reiche Amerikaner wünschen sich Kinder, können aber keine bekommen. Die Menschen verzweifeln, nicht wahr?«
Jonas sah, wie seine Mutter zusammenzuckte. Mr Reardon fuhr fort.
»Eine schlechte Kombination: verzweifelte Reiche, die etwas wollen, was verzweifelte arme Menschen haben. Gesetze werden gebrochen, Rechte missachtet, Geld wechselt auf illegale Weise den Besitzer . . .«
»Wir haben nichts Unrechtes getan«, sagte Dad unbewegt.
»Ich habe Ihnen nichts vorgeworfen«, erwiderte Mr Reardon. »Schlechtes Gewissen?«
Dad sah Mr Reardon fassungslos an und schoss auf seinem Stuhl vor.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Jonas wurde über eine angesehene Adoptionsagentur adoptiert. Wir hatten keinen Kontakt zu irgendwelchen Schmuggelringen! Wir – wir haben nichts bezahlt! Nur die übliche Adoptionsgebühr – aber –, aber die müssen alle bezahlen!«
Jonas hatte seinen Vater noch nie so wütend gesehen, dass er stotterte. Normalerweise war er der Ruhigstein der Familie, sanftmütig wie ein Clark Kent, nur ohne Geheimnisse.
Mr Reardon lachte, als fände er Dads Reaktion amüsant.
»Was wir hier besprechen, ist ja auch reine Theorie. Schon vergessen?«
Sein Vater lehnte sich zurück, aber Jonas konnte sehen, wie viel Mühe ihn das kostete. Mom ergriff Dads Hand und Jonas sah, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden, so fest klammerten sie sich aneinander.
»Rein
theoretisch
«, fuhr Mr
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