Die Entfuehrten
riesengroßes Rätsel, okay?«, sagte er. »Vielleicht werden wir niemals alle Antworten bekommen.«
»Aber vielleicht sollten wir lieber jetzt so viel wie möglich herausfinden, damit sich der Rest auf der Konferenz klären lässt«, gab Katherine zurück.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Jonas ihr Spiegelbild im Badezimmerspiegel. Mit ihrem konzentrierten Blick sah sie aus wie Sherlock Holmes kurz vor der Lösung seines größten Falls.
Während er mit der Zahnpasta um den Mund aussah, als würde er schäumen.
Wer ist hier eigentlich verrückt?, fragte sich Jonas. Sie oder ich?
Chip seinerseits erfand immer wieder neue Ausreden, um an der Robin’s Egg Lane Nummer 1873 vorbeizufahren. Das Haus blieb leer und verschlossen.
Außerdem versuchte er, seine Eltern zu überreden, mit ihm an der Konferenz teilzunehmen. Peinlicherweise hörte Jonas einen dieser Versuche mit an, als er die Veranda der Winstons betrat, um anzuklingeln und Chip einzuladen, drüben mit ihm Basketball zu spielen.
»Zum letzten Mal, nein!«, brüllte eine Männerstimme aus dem Haus. »Ich bin an diesem Vormittag zum Golf verabredet und deine Mutter hat einen Termin im Wellness-Center. Wir können es uns nicht leisten, sechs Stunden mit irgendwelchen rührseligen, sentimentalen Waschlappen zu verplempern, die einem nur Schuldgefühle einreden wollen, weil wir nicht die perfekten Eltern sind! Ende der Diskussion!«
Jonas drückte auf die Klingel.
»Du kannst mit uns kommen«, sagte er zu Chip, sobald dieser die Tür öffnete. »Ich überrede meine Eltern, dich mitzunehmen.«
Chip nickte nur.
Der 28. Oktober zog frisch und klar herauf, ein perfekter Herbsttag. Jonas wachte früher auf als sonst, wahrscheinlich weil Katherine schon auf den Beinen war und im Badezimmer Lärm machte. Er hörte, wie sie das Wasser an- und wieder ausdrehte, den Ventilator auf höchste Stufe stellte und ihr Handtuch vom Halter riss, dass die Streben klapperten. Er stolperte in den Flur hinaus.
»Heute ist der große Tag!«, verkündete Katherinestrahlend, als sie ihn, die Haare in ein Handtuch gewickelt, umkurvte und in ihr Zimmer lief.
»Los geht’s, Leute«, murmelte Jonas leise, weil sich Katherine anhörte, als müssten ihren Worten eigentlich Überschlag, Spagat und jubelnd hochgerissene Arme folgen.
»O Himmel«, flüsterte er, ans Waschbecken gelehnt. »Sie ist wirklich ein Cheerleader.« Und plötzlich begriff er, dass das stimmte. Nicht weil sie ein Hohlkopf, ein Feger oder eine sportliche Niete war, sondern weil sie sich mit Leib und Seele für die Belange anderer engagieren, wunderbar Anteil nehmen und sich von der Seitenlinie aus einsetzen konnte.
Wie kam es, dass er die Persönlichkeit seiner Schwester so gut verstand und seine eigene so schlecht?
Drei Stunden später saß die gesamte Familie, plus Chip, in ihrem Minivan und fuhr zur Clarksville Valley High School.
»Das Wetter ist so gut, dass sie bestimmt einige Workshops im Freien abhalten können«, sagte Mom und drehte sich zu Katherine um, die auf dem mittleren Platz saß, und zu Jonas und Chip ganz hinten.
»Stimmt, ich freue mich schon auf die Wanderung und die Übungen zur Stärkung des Selbstvertrauens in freier Natur«, sagte Katherine.
Wieder machte ihre Mutter ein erstauntes Gesicht.
»Diese Teenager-Workshops sind eigentlich nicht für die Geschwister von Adoptivkindern gedacht, Katherine«,sagte sie. »Wir können immer noch umdrehen und dich zu Hause oder bei einer Freundin absetzen, damit du Jonas und Chip nicht . . . ablenkst.«
Katherine drehte sich um und hob die Augenbrauen, als wollte sie Jonas damit sagen:
Darum musst du dich kümmern
.
»Sie wird uns nicht ablenken, Mom«, sagte Jonas. »Chip und ich wollen, dass sie mitkommt. Stimmt’s, Chip?«
»Das stimmt, Mrs Skidmore«, sagte Chip.
Mom sah immer noch skeptisch drein, als wüsste sie, dass irgendetwas vor sich ging. Doch sie drehte sich um und las Dad die Wegbeschreibung zur Schule vor.
Jonas war noch nie in der Clarksville Valley High School gewesen. Es war ein riesiges neues Gebäude am Stadtrand, das direkt an ein Naturschutzgebiet grenzte. Die Straße, die zur Schule führte, wies zahllose neue Abzweigungen auf, an denen Häuser in den verschiedensten Phasen der Fertigstellung standen.
Dad pfiff durch die Zähne.
»Diese Wohngegend ist so neu, dass man die feuchte Farbe noch riechen kann«, sagte er. »Schöne Häuser, nicht?«
»Wir ziehen aber nicht um!«, rief Jonas vom Rücksitz.
Beide Eltern
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