Die Entfuehrten
Klassenraum bleiben muss«, erklärte er.
»Heißt das, dass wir heute Nachmittag im Klassenzimmer hocken?«, fragte jemand. Es war einer aus der Gruppe mit den Totenschädel-Sweatshirts.
Jonas verpasste Mr Hodges Antwort, weil er dachte:Ja, bitte. Ein ganz normales Klassenzimmer. In dem irgendein langweiliger Erwachsener vor sich hin brabbelt und die größte Gefahr darin besteht, dass ich einschlafe.
Jonas wusste, dass ihm Schlimmeres drohte als das. Er spürte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern schoss und sein Körper sich anspannte. Doch er wusste nicht, was er mit all dem Adrenalin anfangen sollte. Er wusste nicht, worin genau die Gefahr bestand. Eigentlich glaubte er nicht recht daran, dass man sie alle in ein Flugzeug verfrachten würde.
Brauchen sie überhaupt ein Flugzeug, um uns an einen anderen Ort, in eine andere Zeit zu bringen? Was ist, wenn es genauso ist wie bei Angela? Wir gehen einen Schritt vorwärts und plötzlich sind wir weg?
Katherine stieß ihn an. Jonas merkte, dass er angefangen hatte, wie ein streitlustiger Boxer mit geballten Fäusten von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Benimm dich nicht so komisch«, flüsterte sie. »Die anderen schauen schon her.«
Jonas ließ die Fäuste sinken und zwang sich, Mr Hodges Erklärungen zu folgen.
»Bevor ich weitermache, möchte ich euch Gary Payne vorstellen. Er ist Sozialarbeiter wie ich und wird mir heute helfen«, sagte er. »Komm her, Gary.«
Ein jüngerer Mann, der in einer lässigen Kluft aus Jeans und Sweatshirt steckte, joggte die Stufen hinauf, um sich neben Mr Hodge zu stellen. Er war kaum größerals dieser, wirkte aber wesentlich bulliger. Dort, wo er die Ärmel seines Sweatshirts hochgeschoben hatte, sah Jonas dicke Muskelstränge.
Muskeln?
»Ist das F?« Jonas lehnte sich zur Seite und flüsterte hektisch mit Katherine und Chip.
Hilflos zuckten sie die Achseln. Wer konnte das sagen? »Ich werde auf der Wanderung die Spitze übernehmen und Gary bildet die Nachhut, um sicherzustellen, dass es keine Nachzügler gibt«, erklärte Mr Hodge und grinste, damit es wie ein Scherz klang. Wer würde an einem so schönen Tag, auf einer so herrlichen Wanderung schon zurückbleiben wollen?
Dann begann Mr Hodge den Zweck der Wanderung zu erklären: dass sie sich an die Natur anpassen und ihre Identität finden sollten, indem sie mit ihrer Umwelt in Verbindung traten.
»Auf dem ersten Teil der Wanderung möchte ich, dass ihr absolut still seid und euch nur auf das konzentriert, was ihr um euch herum seht«, sagte er. »Dann machen wir halt und reden über das, was wir in dieser Stille entdeckt haben.«
Wir dürfen nicht reden?, überlegte Jonas und schon meldete sich seine Panik zurück. Nicht untereinander und nicht mit den anderen Kindern?
»Wir sollten uns in die Mitte vorarbeiten«, flüsterte Katherine. »Dann können Gary und Mr Hodge nicht sehen, wenn wir miteinander reden.«
Natürlich. Brich die Regeln.
Es war seltsam, wie erleichtert sich Jonas fühlte, als ihm diese Möglichkeit bewusst wurde.
Mr Hodge sprang die Treppe herab und führte die Gruppe durch einen Korridor zu einem Hinterausgang der Schule. Jonas ließ etwa ein Dutzend Leute vor sich hinausgehen; er sah die die lang gezogene Gruppe im Sonnenschein über die Wiese marschieren und auf den Wald des Naturschutzgebietes zusteuern. Es war eine heitere Szene, trotzdem fröstelte Jonas beim Zusehen. Sie erinnerte ihn an etwas. Etwas aus seiner Kindheit . . .
Der Rattenfänger von Hameln
. Er und Katherine hatten ein Märchenbuch besessen, als sie noch klein waren. Seine Schwester hatte es geliebt, er dagegen konnte es nicht ausstehen, weil ihm eine Illustration immer Angst eingejagt hatte. Es war das Bild des Rattenfängers, der die Kinder von Hameln ins Verderben führte. Die lachende Schar hüpfte und tanzte darauf zur Musik des Flötenspielers, während Jonas genau wusste, was ihr bevorstand. Es war ihm unerträglich gewesen, dass die Kinder so glücklich waren, obwohl sie eigentlich hätten Angst haben müssen.
Mr Hodge spielt aber keine Musik, ermahnte er sich. Er ist kein Zauberer. Er kann uns nicht zwingen, etwas zu tun, was wir nicht wollen.
Und doch folgte ihm Jonas durch die Tür.
»Wir müssen die anderen warnen«, murmelte er Chip und Katherine zu.
Katherine wirkte bestürzt, während Chip nickte und sich zurückfallen ließ, um mit dem Jungen zu reden, der hinter ihnen ging.
»Ich bin Chip Winston«, hörte Jonas ihn leise sagen. »Ich habe
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