Die Entführung der Musik
Erinnerung. Eine Erinnerung, die er bei seiner verzweifelten Su- che nach einer Möglichkeit mitnehmen konnte, den größenwahnsinni- gen Musiker auf der Berghöhe zu bezwingen.
»Bevor er uns zurückschickte, versprach er uns nach Möglichkeit zu helfen.« Er zeigte auf die dunklen Wolken, die die höchsten Bergspit- zen umhüllten. »All die gestohlene Musik, von der wir gehört haben, ist dort oben, und noch mehr wird ihrem angestammten Platz entris- sen, sogar in diesem Moment, wo wir hier stehen und reden. Da oben befindet sich ein Musiker aus meiner Welt, dessen Fähigkeit zum Bö- sen sein Talent bei weitem übersteigt. Mudge und ich haben versucht, ihn aufzuhalten, mußten uns aber zurückziehen.«
»Die Regenbogenbrücke«, bemerkte Seshenshe.
»Ja.«
»Wir dachten, ihr kämt nie mehr zurück.« Der Ausdruck in Ansibet- tes Augen ließ erkennen, daß dies mehr als nur eine Enttäuschung für sie gewesen wäre.
Da Otter ihre Gefühle wesentlich demonstrativer bezeugen, warf Pivver Mudge die Arme um den Hals und brachte mitten auf seinen Lippen einen schnurrhaarigen Kuß an. Der verblüffte Otter taumelte. Eines der seltenen Male, seit er Mudge kennengelernt hatte, erlebte Jon-Tom den Freund in einer Situation, da ihm die Worte fehlten.
»Ich bin froh, daß Ihr zurück seid.« Leutnant Naike schüttelte Jon- Tom die Hand und nickte dann zu dem Berg hinüber. »Was auch im- mer dort oben sein mag, es befindet sich in schlechter Stimmung.«
Wie um seine Beobachtung zu bestätigen, kam eine alles übertref- fende akustische Donnerlawine den Berg heruntergerumpelt. Schwar- ze Blitze schnitten in den blauen Himmel.
Statt mit dem Finger zeigte Quiquell mit der Zunge, »schaut! da kommt etwas den berg herunter!«
Aus dem Bauch der schwärzesten Wolke stiegen Gestalten nach un- ten, als hätte das Unwetter selbst sie geboren. Auf diese Entfernung waren ihre Umrisse noch unscharf, doch Jon-Tom und Mudge brauch- ten ihnen nicht näher zu sein, um auf Anhieb zu wissen, wer da kam. Hinckel, der die Eindringlinge auf seinem Gipfel nicht hatte erledigen können, verfolgte sie nun nach unten.
Als die geflügelten Figuren näher kamen, erkannte Jon-Tom ein Gespenst nach dem anderen, von dem Möchtegern-Elvis bis zu dem ausschweifenden Rapper, der die Südstaatenschönheit imitierte. Beim Abstieg spielten und sangen sie ihre entsetzliche Musik, die ihnen weit vorausschallte.
»Was ist das für ein gräßlicher Lärm?« Ansibette verzog mit schmerzlich geöffnetem Mund das schöne Gesicht.
Jon-Tom machte die Duar bereit, vielleicht - nach allem, was er wußte - zum letzten Mal. Nun kannte er die Natur des Gegners und war besser auf ihn vorbereitet. Dies änderte jedoch nichts an der Tat- sache, daß er zahlenmäßig noch immer völlig unterlegen war.
Die Prinzessinnen mußten geschützt werden. Fest entschlossen ver- drängte er das Ungleichgewicht aus dem Sinn und stellte sich mit spielbereitem Instrument zwischen den Damen und dem Berg auf. Er wußte, er müßte singen wie nie zuvor in seinem Leben.
Als die heranstürzende Masse sich in einzelne Figuren auflöste, stießen die Soldaten und die hinter ihnen zusammengedrängten Prin- zessinnen entsetzte Keuchlaute aus. Naike befahl seinen Leuten, hinter Jon-Tom eine Linie zu bilden. Angesichts der Gegner, denen sie sich hier entgegenstellen mußten, würden die Hellebarden und der Mut der Soldaten wenig nützen, aber dennoch war Jon-Tom für diese Geste der Unterstützung dankbar.
Vielleicht war Hinckels Macht außerhalb seiner sicheren Festung geringer, überlegte Jon-Tom. Vielleicht.
Neben ihm erklang schneidend eine quiekende Stimme. »Un wo is jetzt dein so verdammt mitfühlender Käfer? Ich könnt mir denken, daß man 'ier was mit ihm anfangen könnt.«
»Sei nicht zu hart gegen ihn. Wir sind erst seit ein paar Minuten zu- rück. Man kann nicht behaupten, daß er viel Zeit hatte, die Situation zu analysieren. Außerdem gehört Schnelligkeit nicht gerade zu den starken Seiten eines Wissenschaftlers.«
»Irgendeine Art von starker Seite könnten wir hier gut gebrauchen«, beklagte sich der Otter. Doch trotz seines Pessimismus hielt er die Stellung und legte sorgfältig einen Pfeil in die Bogensaite ein.
Der Chor aus Hinckels Gefolge verursachte ein Hämmern in Jon- Toms Hinterkopf. Wenn er noch viel von diesem abscheulichen Spiel und unbeschreiblich schlechten Gesang hören mußte, würde sich das Pochen vielleicht in eine Migräne verwandeln. Er hatte
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