Die Entführung der Musik
dieser Richtung lag die Seenplatte mit den schönen Städten Wrounipai und Quasequa, Orte, die Mudge und er gut kannten. Dort würde man sich an sie erinnern und sie will- kommen heißen.
Doch die Musik strebte weiterhin entschlossen nach Süden in müh- sam zu durchwanderndes, unbekanntes Gelände und ließ nicht die ge- ringste Neigung erkennen, abzuweichen und sich diesen einladenden Städten auch nur zu nähern.
Will nur hoffen, daß an der Sache was dran ist, dachte Jon-Tom bei sich. Wenn das dringliche Geläut nun, nachdem es sie die ganze Stre- cke bis hierher geführt hatte, einfach plötzlich verstummte, würde er nicht nur wütend werden, sondern im Gegensatz zu Mudge würde er nicht einmal jemanden haben, auf den er wütend sein konnte. Mudge, das wußte er, konnte seine Wut immer an ihm auslassen.
Er stellte fest, daß er öfter, als ihm lieb war, an das warme Studier- zimmer und gemütliche Bett in seinem heimischen Baum dachte. An Taleas anregende Gegenwart und bemerkenswerte Mahlzeiten. Fast gegen ihren Willen hatte sie ihr Talent zur Feinschmeckerköchin ent- deckt. Liebevoll dachte er an die Streitereien, mit denen Buncan und er sich an den Tagen vergnügten, wenn sein Sohn nicht in der Schule, sondern zu Hause war, und an die kleinen Unterbrechungen, die den Alltag würzten. Sogar Clodsahamps schroffe Ermahnungen und auf- munternden Beleidigungen fehlten ihm.
Er blinzelte. All das lag viele Tagesmärsche hinter ihm. Statt dessen mußte er sich mit einer Wolke unklarer Herkunft zufriedengeben, mit einer brütenden, wenn nicht offen feindseligen Landschaft und mit einem Otter, der die Kunst des Klagens zu einem erschreckend wich- tigen Teil seines Lebenswerks gemacht hatte.
Außerdem tat ihm der Rücken weh. Was wollte er eigentlich hier? Wieso schlief er auf hartem Boden und aß das, was man sich unter- wegs so zusammen suchen konnte? Was war nur in ihn gefahren? Sei- ne mit abenteuerlichen Fahrten angefüllten Tage lagen angemessen- erweise in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart. Er gehörte als vollwertiges Mitglied einem äußerst angesehenen Berufsstand an, und sein Ruf reichte über das ganze Gebiet der Glockenwälder. Allmählich erschien ihm die Tatsache, daß er in Begleitung eines streitsüchtigen Otters und eines rätselhaften Musikfragments über die unbekannten Duggakurra-Hügel kraxelte, nicht mehr so neu und verlockend.
Wenn er wenigstens noch mit jemand anderem hätte reden können, wäre das schon eine Hilfe gewesen.
Als hätte die Musik seinen Gemütszustand gespürt, schwebte sie zu- rück und umarmte ihn aufmunternd und ermutigend mit ihrer klin- gelnden Wärme. Mit hartnäckigem Optimismus tanzten die Partikel vor seinen Augen.
»Ja, ja, ich komme«, brummte er, griff nach einem Ast und zog sich über eine schwierige Stelle. Wie weit noch, so fragte er sich, würden sie gehen müssen, wohin auch immer die Musik sie führen mochte? Was, wenn diese Ansammlung von Tönen kein bestimmtes Ziel hatte? Die Wolke konnte sie einmal um die Welt und wieder zurück führen. Was, wenn Clodsahamp unrecht hatte und es sich doch um einen voll- ständigen musikalischen Gedanken handelte, der einfach mit jedem spielte, der dumm genug war, ihm zu folgen? Was, wenn sie keinem bestimmten Ort zustrebten, sondern einem Pfad folgten, der kein Ende und kein Ziel hatte?
Solche Gedanken trugen keineswegs dazu bei, seine Schritte länger zu machen oder seinen Mut zu heben, und so tat er sein Bestes, nicht dabei zu verweilen. Mudge war pessimistisch genug für beide.
Der nächste Morgen brachte zumindest eine Unterbrechung in der scheinbar endlosen geologischen Folge von Bergen und Bächen. Statt einen steilen Abhang mußten sich die Wanderer eine niedrige, aber gefährliche Felswand hinunterarbeiten und trafen auf ein Flüßchen, das sich nicht nur in einen Fluß ergoß, sondern auch zu einem mit Flußkieseln übersäten Strand von beträchtlicher Breite führte. Der Fluß war flacher und breiter als die tief eingeschnittenen Wasserläufe, die sie bisher überquert hatten, und weitete sich schließlich zu einem kleinen See, in dem man sogar schwimmen konnte.
Flecken von Teichrosen und anderen Wasserpflanzen drängten sich mit ihren gelben und lavendelfarbenen Blüten in der Nähe des natürli- chen Dammes auf der anderen Seite des Sees und boten dem Auge mehr Farben als alles, was die Reisenden seit vielen Tagen gesehen hatten. Unter dieser schützenden Decke pfiffen und sangen kleine
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