Die Entführung der Musik
kleine Gruppen von Verrückten wie wir scheren ihn wahr- scheinlich nich.«
In der Gesellschaft von Mungos und Otter fühlte Jon-Tom sich so plump wie ein betrunkener Elefant. Jedes Quietschen und jedes Knar- ren der Bodendielen schienen unter seinen Füßen zu entstehen.
»Hier entlang!« Naike winkte den anderen, ihm zu folgen.
Bald darauf kamen sie zu dem Speisezimmer, das der Gärtner ihnen beschrieben hatte. An den pastell-farbenen Wänden hingen Zeichnun- gen und Gemälde von erstaunlich künstlerischem Wert. Mudge mußte Jon-Tom einen Knuff geben, der von einem besonders eindrucksvol- len, eine Sumpflandschaft in der Morgendämmerung darstellenden Aquarell gefesselt war.
»Für einen Kidnapper und Räuber«, flüsterte Jon-Tom ihm zu, als sie in den nächsten Korridor einbogen, »hat dieser Manzai einen aus- nehmend guten Geschmack.«
»Wahrscheinlich wird er uns ausnehmen, wenn du ihn mit deinem Gebrabbel aufweckst«, wies Mudge den Gefährten zurecht.
Wie um dieser Warnung mehr Gewicht zu verleihen, ertönte am dunklen Ende des Korridors ein Stampfen, gefolgt von einem Knur- ren. Etwas Riesiges erhob sich und versperrte ihnen den Weg. Der massige Körper füllte den ganzen Korridor aus.
Im ersten Moment befürchtete Jon-Tom, sie hätten irgendeine au- tomatische Sperrvorrichtung oder ein Falltor ausgelöst. Er wurde je- doch schnell eines Besseren belehrt, als der dunkle Umriß einen Schritt auf sie zumachte. Unter seinem Gewicht erzitterte der Boden des Korridors.
Als die Silhouette im silbrigen Licht der Sterne erkennbar wurde, sah Jon-Tom, daß die Metapher, die er zuvor für seine eigene Fortbe- wegungsweise verwendet hatte, völlig unzutreffend war. Der Elefant, der sich auf sie zubewegte, war alles andere als plump.
Am jenseitigen Ende des Korridors hatte er schlafend gelegen und einen Augenblick gebraucht, sich auf alle viere zu erheben. Seine be- eindruckenden Stoßzähne waren zu stahlumhüllten scharfen Spitzen geschliffen. Ein eigens für ihn gefertigter lederner Kettenpanzer be- deckte Haupt und Rumpf, während schwere Lederschienen die säu- lengleichen Beine umhüllten. Funkelnden Auges prüfte er mit dem empfindsamen Rüssel die Witterung in dem Durchgang.
»Gestalt und Geruch erkenne ich nicht«, ertönte ein gefährliches Grollen. »Eindringlinge?«
»Paßt auf!« schrie Heke gedankenlos heraus. »Er wird Alarm schla- gen.«
Tief aus der Kehle des Elefanten ertönte ein Kichern. »Warum soll- te ich das tun? Wenn ich Alarm gebe, muß ich euch mit anderen tei- len, dabei möchte ich euch doch viel lieber allein platttrampeln.«
Nur ein Wächter, an dem es vorbei zu kommen galt! Wenn dieser Wächter allerdings ein menschenmordender Dickhäuter war, so über- legte Jon-Tom, war vielleicht nur einer nötig.
»Zurück!« schrie Naike. Mit vorgestrecktem Schwert spähte er auch beim Rückzug noch nach einem Weg an dem Ungeheuer vorbei. Doch den gab es nicht. Der Elefant füllte den Korridor vollständig aus; zu beiden Seiten streifte sein Körper die Wände.
Der Wächter streckte die Rüsselspitze aus und legte einen verbor- genen Hebel um. Die versteckte Tür, über die Jon-Tom sich schon die ganze Zeit über Gedanken gemacht hatte, trat nun endlich in Erschei- nung, glitt über gut geölte Rollen und fiel mit einem lauten Knall ins Schloß - hinter ihnen.
Als der Gärtner behauptet hatte, das Eindringen in den Komplex sei einfach, das Herauskommen aber um so schwieriger, war das kein bil- liges Philosophieren gewesen. Nun wurde der Grund für den Aufbau des Gebäudekomplexes klar. Jeder der Verbindungskorridore zwi- schen den Hauptgebäuden war auch eine Falle für Unvorsichtige, ein enger und leicht zu kontrollierender Tunnel, in dem Eindringlinge eingeschlossen werden konnten und wo man sie, wenn sie in der Falle saßen, im Schnellverfahren erledigen konnte, ohne daß das Personal oder die elegante Ausstattung in Gefahr gerieten.
Noch immer prüfte der Elefant witternd die Luft und tat einen wei- teren Schritt auf sie zu. Wie Naike suchte auch Jon-Tom nach einem Weg an ihm vorbei. Vielleicht waren Mungos und Otter schnell ge- nug, unter dem Rüssel hindurchzuschlüpfen, doch sich zwischen diese Säulenbeine zu wagen, war eine ganz andere Sache. Wer das versuch- te, bekam keine Gelegenheit, ein mögliches Fehlurteil zu korrigieren. Diese Lösung war nur im äußersten Notfall anzuwenden.
Und ein solcher Notfall, so dachte er, als der gewaltige Wächter sie unaufhaltsam auf die
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