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Die Entführung in der Mondscheingasse

Die Entführung in der Mondscheingasse

Titel: Die Entführung in der Mondscheingasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Hotelgast
     
    In seinem Zimmer legte Uckmann den
violetten Bademantel ab. Seine Haut war getrocknet. Das bißchen Feuchtigkeit in
den Haaren störte ihn nicht. Rasch zog er sich an, aber nicht feingemacht fürs
Abendessen im Restaurant, sondern so abgewetzt-lässig, als wollte er den Rest
des Abends auf dem Teppich rumfläzen.
    Ärgerlich sah er auf die Uhr. Er hatte
sich verspätet, verdammt, hatte im Hallenbad die Zeit vergessen. Der Bus aus
Enge würde gleich dasein.
    Er schlüpfte in eine Windjacke, schloß
sein Zimmer ab und treppte ab im Sturmschritt, weil der Lift nicht kam.
    Heute morgen war er hier eingetroffen.
Zuvor hatte er sich mit einem Anruf — unter falschem Namen — vergewissert, daß
Kommissar Glockner an diesem Wochenende, und keinem späteren, Zinke-Schollaus
Gast war. Vorhin hatte er die Ankunft der Gruppe beobachtet. Und inzwischen
kannte er zwei der Jugendlichen aus der Nähe. Über die Rempelei wegen seinem Gespucke ärgerte er sich im Nachhinein. Es war
unklug, solcherart auf sich aufmerksam zu machen. Offensichtlich hatte er die
beiden unterschätzt. Sonst hätte er nicht die Sau rausgelassen, beziehungsweise
die Spucke.
    In der Halle unten wimmelten mindestens
zwei Dutzend Gäste herum. Die meisten wollten noch vor dem Essen in die
gemütliche Bar, um dort — und nicht im Restaurant am Tisch — ihren Apéritif (appetitanregendes
alkoholisches Getränk) zu zuzzeln.
    Uckmann durchquerte die Halle. Als er
an der Rezeption vorbeikam, hob Sofie den Blick von der Zimmerliste.
    Uckmann zeigte grinsend die Zähne. Er
konnte nicht anders, wenn er sich von einer hübschen Frau beobachtet fühlte — wobei
es nicht unbedingt eine Sophia Dingsbums sein mußte. Den Vorspeisen-Nachnamen
seiner italienischen Auftraggeberin kannte er auch jetzt noch nicht.
    Sofie jedenfalls erwiderte sein
Lächeln, aber nur mit dem Mund. Ihre Bambi-Augen blieben kühl, was bei ihrem
fröhlichen Gemüt fast schon ein Kunststück war. Uckmann merkte wohl, daß sie
ihn nicht mochte, hatte aber keine Erklärung dafür und verschwendete auch keine
Überlegung daran. Woher sollte er wissen, daß Sofie seine Schrift untersucht
und ihn — charakterlich treffend — eingestuft hatte?
    Er mäßigte den Schritt. Beim Portal
stolperte er über die Teppichkante. Draußen herrschte Dunkelheit. Das Licht aus
den Hotelfenstern drang nicht weit. Kalter Wind fiel von den Bergriesen, als
wollte er auch jetzt daran erinnern, daß alle Gipfel mit Eis und Schnee
gepanzert waren.
    Der Verbrecher fröstelte. Die Hände in
den Taschen vergraben, tappte er los. Wer ihn zufällig beobachtete, sollte
denken, daß er seinen Abendspaziergang gewohnt war.
    Er bohrte in die Dunkelheit. Noch zehn
Schritte — und er war an der Bushaltestelle. Er blieb stehen und sah sich um.
Nein, niemand taperte in der Nähe herum. Alle schienen im Hotel zu sein. Gus
Uckmann war sicherlich der einzige, der beim Abendessen fehlte. Allerdings — noch
war er unschlüssig, ob er als Gus Uckmann oder als Richard Heyse mitspeisen
würde. Denn auch für Richard Heyse, in den er sich gleich verwandeln wollte,
war für heute ein Zimmer reserviert. Mit Halbpension, das heißt mit Frühstück
und Abendessen.
    Er ging weiter. Der Wind fauchte durch
die Ansammlung niedriger Fichten. Sie standen dicht beisammen, als wollten sie
ein Dickicht bilden. Nur streunende Hunde, Waldmäuse oder Blindschleichen
hätten Freude daran gehabt, sich unter die Zweige zu zwängen.
    Auf der Seite, die dem Hotel abgewandt
war, geisterten Nebelschwaden. Hierher hatte Uckmann sich heute morgen
abgesondert aus der Gruppe der Reisenden, mit denen er per Bus aus Enge
eintraf. Im Fichten-Dickicht hatte er seinen zweiten, kleineren Koffer
versteckt. Damit das Leder nicht glaubte, es müsse in der Feuchtigkeit Schimmel
ansetzen, steckte das Reisegepäckstück in einer Plastikhülle. Sie war der
hoteleigenen Zellophan-Badekappe verteufelt ähnlich, nur größer.
    Als Merkmal zum Wiederfinden hatte
Uckmann einen Baum ausgewählt, der schneller wuchs als die andern und nur um
einen Wipfel größer war.
    Er fand ihn nicht gleich, weil der
Nebel geisterte und die Bäume oben abschnitt. Aber dann sah er ihn doch. Er
drängte sich durch die Zweige, und die feuchten Nadeln mochten ihn so wenig,
als hätten auch sie seine Schrift untersucht. Sie piekten und stachen ihn,
spickten Jacke und Hose.
    Uckmann fand seinen Koffer — an einer
Stelle, wo etwas Platz war. Eng war es trotzdem, feucht und absolut dunkel.

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