Die Entfuehrung
ungläubig und wütend an. »Und ich habe mir ernsthafte Sorgen um ein zwölfjähriges Mädchen gemacht, das entführt wurde. Was bin ich nur für ein Dummkopf, Herr Präsident.«
Ihr Blick wurde entschlossen, aber der Präsident wich ihm aus. Sie wandte sich um und verließ den Raum. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie forsch den Flur hinunter in dem Bewusstsein, dass dies mit aller Wahrscheinlichkeit ihr letzter Besuch im Oval Office gewesen war.
38
Vincent Gambrelli wachte bei Sonnenaufgang auf, fünf Minuten bevor der Wecker klingelte. Seit mehr als dreißig Jahren stand er jeden Morgen zur gleichen Zeit auf, seit seiner ersten Nacht, die er als Green Beret in den Dschungeln von Vietnam verbracht hatte. Er hatte nie wirklich einen Wecker gebraucht, und er hatte überhaupt erst in den letzten Monaten, seit er auf die fünfzig zuging, damit begonnen, einen zu benutzen. Für ihn war es eine Art Wettkampf, Mann gegen Maschine. Ab dem Tag, an dem er nicht mehr wissen würde, wann er aufzustehen hatte, würde er seinem Körper nicht mehr trauen können.
Wie üblich hatte er in dunkelgrüner Trainingshose und Tarnhemd geschlafen. Er legte sich rücklings auf den Teppichboden, die Knie nach oben, die Füße am Bettrahmen eingehakt. Zweihundert Rumpfbeugen, dabei gleichmäßiges Ein- und Ausatmen. Dann auf den Bauch und die Hände in Liegestützposition. Sein Rücken war starr wie ein Stahlseil bei den ersten fünfzig Liegestützen auf den Handflächen, dann folgten weitere fünfzig auf den Fingerspitzen. Im Anschluss fünfundzwanzig auf dem rechten Arm, und noch mal fünfundzwanzig auf dem linken.
Energiegeladen sprang er auf die Füße, ließ die Arme kreisen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen, und ging ins Bad. Er zog das T-Shirt aus und betrachtete sich im Spiegel. Das rote Glühen des Heizstrahlers verlieh ihm ein diabolisches Aussehen, was ihm gut gefiel. An Unterarmen und Bizeps traten prall die Adern hervor. Auf seinem glattrasierten Schädel glänzten kleine Schweißperlen. Er betrachtete sein Profil im Spiegel. Hager. Nichts, was verzichtbar war. Kein überflüssiges Gramm Fett. Kein überflüssiges Haar auf dem Kopf. Keine Spur von Mitgefühl in seinen kalten, dunklen Augen
Er duschte und kleidete sich schnell an. In seinem Magen machte sich Hunger bemerkbar, aber das hatte Zeit. Er holte einen Seesack aus dem Schrank, legte ihn auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Er strich die Tagesdecke glatt und zog ein Paar dünne Gummihandschuhe über. Handschuhe waren ein Muss, wenn man mit der Ausrüstung hantierte. Keine Fingerabdrücke.
Vorsichtig, beinahe liebevoll, fasste er in den Seesack, nahm ein schlankes, leichtgewichtiges AR-7-Gewehr heraus und legte es auf das Bett. Der Lauf war bereits abgeschraubt, um ihn zusammen mit dem Magazin im Kolben zu verstauen. Die Seriennummer direkt über dem Magazinschaft war völlig ausgefräst. Daneben legte er das Drei-mal-sechs-Ziel-fernrohr, das stark genug war, für eine Entfernung bis zu sechzig Metern tödliche Genauigkeit zu gewährleisten. Das war weit mehr, als er letzte Nacht benötigt hatte. Von der anderen Straßenseite aus war Repo leichte Beute gewesen.
Mit einem kleinen Schraubenzieher nahm er das Gewehr systematisch auseinander. Mit einer Drahtbürste reinigte er den gedrillten Lauf, dann nahm er eine Rattenschwanzfeile, um den Lauf, die Patronenkammer, die Zuführrampe, den Schlagbolzen und die Ausziehkralle zu verändern - all die Teile, die ballistische Spuren hinterließen. Es war vielleicht eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, sich solche Mühe zu machen, aber vielleicht kam die Polizei ja auf die Idee, die Kugeln in Repos Körper mit den ballistischen Eigenheiten in Gambrellis Waffen zu vergleichen. Selbst wenn die Bullen Gambrelli entdeckten - viel Glück dabei -, würde wohl niemand Repos Leiche in der schwelenden Asche finden, geschweige denn die Kugeln. Großzügig verteilter Holzalkohol und ein einziges Streichholz hatten ausgereicht, um den Tatort zu verwüsten. Die Polizei würde wahrscheinlich mutmaßen, dass irgendein cracksüchtiger Stadtstreicher auf der Suche nach einem Unterschlupf das leer stehende Haus aufgebrochen und dann vergessen hatte, den Rauchabzug über dem Kamin zu öffnen; dabei war ein Feuer ausgebrochen und er gleich mit geröstet worden. Aber es war eine bewährte Vorsichtsmaßnahme - oder auch einfach eine alte Angewohnheit von Gambrelli -, nach jedem tödlichen Schuss entweder die Waffen
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