Die Entfuehrung
Dir Arschloch habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt nicht mehr der Mittelsmann bin. Jetzt gibt es eine direkte Verbindung zwischen Auftraggeber und Mann am Abzug. Deswegen bin ich stinksauer auf dich, Tony.
Tony sank tiefer in seinen Sessel. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Am besten überhaupt nichts. Mach einfach keinen Scheiß. Nie wieder.«
Tony senkte den Kopf. »Versprochen.«
Gambrelli holte tief Luft, um seine Wut abzukühlen. Der Junge war gebührend zerknischt und zeigte Reue. Würde er nicht zur Familie gehören, wäre er schon tot. Aber ob man wollte oder nicht, er gehörte nun mal zur Familie. Wenn Gambrelli Tony bei der Stange halten wollte, musste er seine Stimmung heben. Ein Partner ohne Selbstvertrauen war eine gefährliche Belastung. Übers Bett hinweg langte er nach einem weißen Ordner, der auf dem Nachttisch stand. Er hatte vergangene Nacht vor dem Einschlafen darin gelesen. »Hier«, sagte er und warf ihn Tony zu.
Tony fing den Ordner auf und betrachtete den Titel: Verschwundene und entführte Kinder. Eine Anleitung für Polizeikräfte zu Falluntersuchung und Aktionsplanung.
»Das ist vom Nationalen Zentrum für verschwundene und missbrauchte Kinder herausgegeben worden«, sagte Gambrelli. »Die Bibel für alle Bullen, die Jagd auf Kindesentführer machen. Die Bibel für Männer wie uns, die nicht von ihnen geschnappt werden wollen.«
»Das soll ich alles lesen?«
»Du sollst es in dich aufsaugen. Du musst anfangen, so zu denken wie das FBI. Dieses Buch hier hat ein Special Agent des FBI namens Harley Abrams geschrieben. Wenn du das liest, weißt du genau, wie er denkt - sehr analytisch, Schritt für Schritt. Gestern Abend hab ich noch mal den Teil gelesen, in dem er alle möglichen Motive für Kindesentführung darlegt. Sexuelle Brutalität, Lösegeld, Kinderhandel und noch ein paar andere. Er kommt auf die Gesamtzahl von sieben wahrscheinlichsten Motiven. Zum Schluss stellt er die Überlegung an, dass ein echtes mögliches Motiv politischen Zielen dient. Und da wird es sehr interessant. Er sagt nämlich, dass es in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch keinen einzigen Fall von Kindesentführung aus politischen Gründen gegeben hat. Was hältst du davon, Tony?«
Tony riss die Augen weit auf, wie ein Schulkind, das es nicht leiden kann, aufgerufen zu werden. »Keine Ahnung. Vielleicht will er sagen, dass es einfachere Methoden gibt, eine Wahl zu vermasseln, als ein Kind zu entführen.«
»Intelligenter Bursche«, sagte Gambrelli anerkennend. »Sehr intelligenter Bursche. Könnte sein, dass das FBI so denkt. Welche Möglichkeit gibt's noch?«
Tony verzog nachdenklich das Gesicht. »Dass es immer irgendwann das erste Mal ist.«
Gambrelli lächelte schmallippig. »Manchmal denke ich, dass du zu hässlich bist, um der Sohn meiner Schwester zu sein. Aber intelligent genug bist du.« Tony rang sich ein Lächeln ab.
Gambrelli zwinkerte ihm zu. Mission ausgeführt. Sein Vertrauen wuchs; der Junge war wieder mit dabei. Er zog eine Polaroidkamera aus dem Seesack, öffnete die Filmkammer und legte einen Film ein. »Du setzt dich jetzt hin und liest das Buch, okay? Und zwar gründlich. Ich muss jetzt ein paar Fotos machen.«
»Fotos? Was für Fotos?«
Gambrelli blickte auf. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Lass dich überraschen. Ich brauche nur ein ganz bestimmtes gutes Foto. Die Art von Foto, das Mütter um den Verstand bringt. Und Familien um ihr Vermögen.
39
Allison zog die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer einen Spaltweit auf, gerade so weit, dass sie einen unauffälligen Blick auf die malerische Straße in Georgetown werfen konnte. Normalerweise war in diesem Viertel ganz früh am Sonntagmorgen alles friedlich. Von ihrem Fenster im ersten Stock aus konnte sie jedoch die Medienvertreter sehen, die sich draußen zusammengefunden hatten. Einige hatten Wärme gesucht und schliefen in ihren geparkten Autos und Kleinbussen. Andere drängten sich auf dem mit Ziegelsteinen gepflasterten Gehweg in Grüppchen zusammen und diskutierten. Ihre Gesichter waren im Schein der alten Straßenlaternen, die kurz vor dem Morgengrauen ein unheimliches Licht verbreiteten, nicht zu unterscheiden. Gekleidet in Pudelmützen und unförmige Winterjacken, traten sie von einem Fuß auf den anderen, um wie in einem rituellen Tanz die Kälte zu vertreiben. Einige warfen lachend die Köpfe in den Nacken und amüsierten sich mit Pappbechern voll dampfendem Kaffee in der Hand.
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