Die Entfuehrung
davon, dass Schweigen die richtige Antwort war.«
Er nickte zustimmend und verließ das Zimmer.
Sie überprüfte ihr Aussehen im Spiegel; die Erinnerung an ihre Begegnung mit Mitch auf der Gala steckte ihr immer noch in den Knochen. Vielleicht war sie ja paranoid, aber sie hatte das scheußliche Gefühl im Bauch, dass jemand sie reinlegen wollte - irgend jemand wollte sie so lange provozieren, bis sie abstritt, dass sie Peter je betrogen hatte, um sie dann mit einem Tonband und einem mysteriösen Zeugen fertigzumachen, der ihr Treffen mit Mitch vollkommen verdrehte. Sie wäre schlimmer als eine Ehebrecherin. Sie wäre eine Ehebrecherin und eine Lügnerin, eine weitere hoffnungsvolle Präsidentschaftskandidatin, die mit wehenden Fahnen auf dem Charterschiff namens Affentheater untergeht. Wenn es so war, dann war sie allerdings davon überzeugt, dass Schweigen die richtige Antwort war.
»Überzeugter denn je«, sagte sie zu dem besorgten Gesicht, das sie aus dem Spiegel anstarrte.
8
Es war Donnerstag, der Morgen von Halloween, und bunte Herbstfarben tauchten die Alleen von Nashville, Tennessee, in ein warmes Licht. Ein kräftiger Regenschauer, und die Pracht wäre dahin, aber nach einer ganzen Woche voller sonniger Tage und kühler Nächte leuchtete das Laub in feurigen Tönen.
Bei strahlendem Sonnenschein stieg die zwölf Jahre alte Kristen an der Wharton Middle-School wie jeden Morgen in den Schulbus. Sie wartete bis um neun Uhr im Aufenthaltsraum der Wharton School, um mit dem Bus zur Martin Luther King Jr. High-School zu fahren, einer Mittelpunktschule auf der anderen Seite der malerischen Fisk University.
Kristen war eine begabte Sechstklässlerin, die dort am Unterricht in englischer Literatur in der zehnten Klasse teilnahm. Das Lernen fiel ihr leicht; älter zu wirken war schon schwieriger. Ihr herzförmiges Gesicht begann gerade, erste Anzeichen von Reife zu zeigen, und das Ergebnis schien vielversprechend - zu vielversprechend, wie sich ihre behütende Mutter sorgte. Make-up war erst mit dreizehn erlaubt, aber Kristen schaffte es dennoch, sich ein wenig die Wimpern zu tuschen, um ihre großen schwarzen Augen zu betonen, das Auffallendste an ihrem Gesicht. Ihre langen Beine würden irgendwann einmal ihr Kapital sein, aber noch war der schlaksige Teenager froh, nicht über sie zu stolpern.
»Morgen, Reggie.« Mit ihrer üblichen guten Laune schwang sie sich auf den Vordersitz. Die Middle-School veranstaltete einen Wettbewerb, deshalb hatte Kristen ihr Halloween-Kostüm angezogen, einen rot-weiß-blauen Trainingsanzug, der das Logo des USA-Teams trug und als Sponsor eine Fast-Food-Kette auswies, genau wie der offizielle Trainingsanzug für Olympia 2000.
Der sechzigjährige Reggie tippte an seine Fahrermütze. »Morgen, Miss Kristen.«
»Würden Sie bitte aufhören, mich Miss Kristen zu nennen. Das klingt so aristokratisch.«
Er machte große Augen. »Na, so ein hochtrabendes Wort hab ich ja noch nie gehört. Sie bringen euch wohl richtig was bei drüben an der High-School, stimmt's, Miss Kristen?«
»Ich glaube schon.«
Der Schulbus fädelte sich auf dem Dr. D. B. Todd-Boulevard in den dichten Verkehr ein. Die Straße führte an der Fisk University vorbei, die ungefähr auf halbem Weg zwischen der Wharton Middle-School und der Martin Luther King Jr. High-School lag. Reggie steuerte auf der Höhe der Meharry Street den Campus an und hielt vor der Jubilee Hall, einem sechsstöckigen Studentenwohnheim, das im neunzehnten Jahrhundert im Stil der viktorianischen Gotik erbaut worden war.
Den Umweg über den Campus hatte Kristen mit Reggie ausgehandelt. Schon vom ersten Tag an konnte sie es nicht leiden, in einem Bus mit der Aufschrift »Wharton Middle-School« an der High-School anzukommen. Sie fand, dass sie sich einen erheblich besseren Auftritt verschaffte, wenn Reggie sie einfach schon an der Uni raus ließ und sie die letzten drei Blocks zur High-School zu Fuß ging. Sie hatte gewaltig mit den Wimpern klimpern und ihren Charme spielen lassen müssen, aber nach zwei Wochen hatte sie ihn soweit, dass er ihren Vorschlag akzeptierte. Seine einzige Bedingung war, dass sie ihm erlaubte, ihr im Bus zu folgen und sie aus sicherer, aber unverdächtiger Entfernung im Auge zu behalten.
»Bis morgen, Reggie.« Sie riss die Bustür auf, sprang mit ihrer Schultasche hinaus und überquerte den Campus. Sie ging vorbei an der alten Bibliothek mit der großen, kaputten Uhr. In dem imposanten Gebäude aus Natursteinen
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