Die Entfuehrung
hinten in der Klasse brennende Streichhölzer in Mülleimer zu schnipsen.
»Schluss damit, Jungs.«
Die Schüler lachten, als sie das Feuer austrat. Sie klopfte sich die Asche von ihrem prächtigen Halloweenkostüm - ein original afrikanisches Königinnengewand aus schwarzem Stoff mit Leopardenfellmuster - und kehrte zu ihrem Pult zurück, um die Sitzordnung zu überprüfen. Einige ihrer Schüler waren zu cool, um sich zu verkleiden, aber viele hatten sich etwas einfallen lassen. Werwölfe und Vampire waren besonders beliebt. Sie notierte die üblichen Schulschwänzer - darunter eine, die normalerweise nicht fehlte: ihre Lieblingsschülerin. Sie ließ ihren Blick noch einmal über die Gesichter wandern. Vielleicht saß sie ja heute an einem anderen Platz, oder sie hatte Kristen in ihrem Kostüm nicht erkannt. Sie konnte sie nirgends entdecken. Sie stand von ihrem Pult auf und sah auf dem Flur nach. Auch dort war sie nicht.
Mrs. Hood fing an, sich Sorgen zu machen. Sie fühlte sich für Kristen besonders verantwortlich, allein schon wegen ihres Alters und der Stellung ihrer Familie. Kristen hatte bisher erst einmal gefehlt. Damals hatte der Konrektor der Mittelschule angerufen, um mitzuteilen, dass sie nicht käme.
Mrs. Hood räusperte sich und rief: »Ruhe bitte.«
Ein Grüppchen am Fenster wetteiferte darum, sich von einem Mädchen, das als Zigeunerin verkleidet war, aus den Händen lesen zu lassen. Die übrigen Schüler unterhielten sich lauthals weiter. Selbst in einer größeren High-School reichten ein paar Flegel aus, um eine ganze Klasse zu stören, besonders an Halloween. »Ruuuuuuhe!«
Sie hatte lauter geschrien, als sie es sich zugetraut hätte. Plötzlich war es mucksmäuschenstill in der Klasse. Als sie Luft holte, war ihre Besorgnis purer Angst gewichen.
»Bitte«, sagte sie atemlos, »hat irgend jemand Kristen Howe gesehen?«
Reggie Miles langte in seine Hosentasche.
Sein Schädel dröhnte von dem Schlag, den er abbekommen hatte, aber er war nur für einen Moment ohne Besinnung gewesen. Er stellte sich immer noch bewusstlos. Obwohl sie ihm die Augen verbunden hatten, hatte er genug gehört, um zu wissen, dass sie Kristen ebenfalls in ihrer Gewalt halten.
Zwar hatte er bisher keinen Mucks von ihr vernommen, aber er hatte die Männer über eine Injektion reden hören, die sie ihr verpasst hatten - irgendein Schlafmittel. Er konnte sie reden hören, vermutlich auf den Vordersitzen. Das würde bedeuten, er und Kristen waren hinten im Bus. Die Motorgeräusche und das leichte Schaukeln des Busses sagten ihm, dass sie fuhren. Er zählte, wie oft sie abbogen - links, rechts, dann wieder rechts -, um sich ein Bild machen zu können, wohin die Fahrt ging. Schließlich verlor er die Orientierung, obwohl er sich nach all den Stops und Starts sicher war, dass sie bald auf der Schnellstraße sein müssten.
Seine Hand arbeitete sich in seiner Tasche Zentimeter um Zentimeter vor, immer ein Stückchen tiefer. Die Plastikschnüre schnitten ihm in die Handgelenke, aber nach zwanzig Minuten waren seine Hände in der richtigen Position. Jetzt konnte er seine Schlüsselkette greifen. Er schloss die Hand um den ganzen Ring, damit er nicht klapperte, und zog ihn aus der Tasche. Dann brachte er seine Hände wieder in die ursprüngliche Position hinten auf dem Rücken. Reggies Finger waren zwar nicht mehr so beweglich wie früher, aber da er sich seit fünfzig Jahren mit Holzschnitzen beschäftigte, war er ziemlich geschickt im Umgang mit einem Klappmesser. Er öffnete die Klinge.
Langsam machte er sich daran, die Plastikschnüre an seinem Handgelenk durchzuschneiden.
9
Der Bus der Wharton Middle-School bog hinter einem Lagerhaus aus rotem Backstein in eine schmale Gasse ein. Er rumpelte über einen Stapel verrosteter Rohre und durch matschige Schlaglöcher, bis er schließlich die Garage am Ende der Gasse erreichte. Das Rolltor ratterte auf quietschenden Scharnieren nach oben. Es öffnete sich gerade so weit, dass der Bus hineinfahren konnte, dann rollte es wieder herunter. Der Bus blieb neben einem weißen Buick Riviera mit New Yorker Kennzeichen stehen.
An den Deckenbalken befestigte Neonröhren beleuchteten die Garage. Der rissige Zementboden war übersät mit Ölflecken, die aussahen wie riesige Amöben. Unter eingestaubtem Segeltuch lagen haufenweise nutzlose Maschinenteile.
Zwei Männer sprangen aus dem Bus, beide mit ledernen Handschuhen und schwarzen Lederjacken. Der Fahrer war Tony Delgado, ein bulliger
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