Die Entfuehrung

ist mir auch schon in den Sinn gekommen, dass vielleicht dein Großvater oder einer von seinen Anhängern dahintersteckt. Du hast ja davon gar nichts mitgekriegt, weil du die Nachrichten nicht gesehen hast. Aber es ist wohl so, dass die Leute mit deinem Großvater Mitleid haben, seit du entführt worden bist. Und zwar so viel Mitleid, dass sie ihn vielleicht deswegen wählen.« »Aber - nein, er kann es nicht gewesen sein!« »Vielleicht war er's auch gar nicht. Wollen wir's hoffen. Wir müssen in jedem Fall ganz besonders vorsichtig sein, bis das FBI weiß, wer's war. Deshalb kann ich dich auch nicht freilassen. Ich glaube, es ist das beste für dich. Wir müssen uns verstecken, zumindest so lange, bis die Wahl vorbei ist. Verstehst du, was ich meine?«
    Sie nickte, während sie immer noch ungläubig auf den Fernseher starrte. Sie schniefte und putzte sich die Nase. »Ich verstehe«, sagte sie mit kummervoller Miene, »ich kann nicht nach Hause.«
32
    Der Zeitplan für die Wahlkampfauftritte in Florida sah vor, dass Allison gegen Mittag von Washington abfliegen sollte, mit einer symbolischen Zwischenlandung in St. Petersburg. Man versprach sich davon, Eindruck auf den in Florida sehr hohen Bevölkerungsanteil von Senioren zu machen. In St. Pete war sie erst einmal gewesen, und zwar vor Jahren auf einer Urlaubsreise. Ein runzliger alter Mann von zweiundneunzig Jahren hatte ihr damals bei der Suche nach einem Ohrring geholfen, den sie am berühmten weißen Sandstrand verloren hatte. Innerhalb von Minuten hatten sich acht seiner Freunde, alles Rentner, an der Suche beteiligt. Sie hatten den Strand wie Minensucher durchkämmt, drei von ihnen waren Veteranen des Ersten Weltkriegs. » Land der frisch verheirateten Scheintoten«, hatte sie einen jungen Hochzeitsreisenden an der Bar sagen hören. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es wirkte ein bisschen so.
    Allison beschloss, vor dem Flug noch eine Stunde in ihr Büro zu gehen. Immer, wenn sie ungestört von den Ablenkungen der Welt nachdenken wollte, ging sie am liebsten in das winzige Dachzimmer zwischen dem fünften und sechsten Stock des Justizministeriums.
    Das Dachzimmer war spärlich möbliert, mit einem Lehnsessel, einem kleinen Sekretär und einem Spiegel. Es gab einen Ventilator im Fenster und eine Liege, auf der der Justizminister in Krisenzeiten übernachten konnte. Das Zimmer war über eine geheime Treppe von einem kleinen Arbeitszimmer der Bürosuite aus zu erreichen. In der Nähe gab es auch einen privaten Aufzug, der direkt in den Keller fuhr. Präsident Kennedy hatte diesen Aufzug benutzt, als sein Bruder Robert Justizminister war. Zusammen mit Marilyn Monroe hatte er sich in das Dachzimmer des Justizministers davongestohlen. Sie hatten das Gebäude unbemerkt durch den Keller betreten.
    Mit bitterer Ironie musste Allison daran denken, dass der glücklich verheiratete Präsident es genau in diesem Zimmer mit dem berühmtesten Sexsymbol der Welt getrieben hatte. Einem Mann konnten die Amerikaner dies offensichtlich nachsehen, wohingegen ein vermeintlicher Ehebruchskandal ausgereicht hatte, Allison in eine politische Todesspirale zu schicken.
    Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Die Grübelei über Ehebruch führte sie wieder zu Mitch O'Brien und dem Foto mit dem scharlachroten Buchstaben, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie von beiden nichts mehr gehört hatte. Sie vermutete, dass Harley Abrams noch in Nashville war, und rief ihn auf seinem Handy an.
    »Harley, ich bin's. Mir ist etwas eingefallen, was noch geklärt werden muss. Gibt es irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach Mitch O'Brien?«
    Harley wollte gerade in sein Auto steigen, das vor dem Außendienstbüro parkte. »Nichts Konkretes. Es wird sogar immer merkwürdiger. Er hat Miami offensichtlich verlassen, aber, wo immer er auch hingegangen ist, er hat keine Spuren hinterlassen. Seit zwei Wochen hat er weder seine Kreditkarte noch sein Handy benutzt.
    »Ich möchte dieser Sache weiter nachgehen. Wenn es irgendeinen Zusammenhang zwischen den Anschuldigungen wegen Ehebruchs und der Entführung von Kristen Howe gibt, dann ist er unsere beste Spur. Und ich glaube immer noch, dass er einiges zur Entführung von Emily zu sagen hätte.«
    Harley seufzte - es war mehr ein Stöhnen. »Allison, ich kann gut verstehen, dass Sie auf einen Zusammenhang zwischen Kristen und Emily hoffen. Aber nach dem Gespräch mit Tanya Howe gestern Abend sollten wir meiner Meinung nach von der