Die Entlarvung
folgte seinem Beispiel. Der alte Mann sah schwach und zerbrechlich aus mit seinen eingefallenen Wangen und dem spärlichen weißen Haar, das seinen Kopf kaum noch bedeckte. Seine Hand fühlte sich kalt und knochig an, fast wie eine Vogelklaue. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie uns empfangen, Sir«, sagte Ben.
»Es ist mir ein Vergnügen.« Der alte Mann lächelte sie an. »Ich bekomme nur noch selten Besuch von zu Hause. Setzen Sie sich doch und machen Sie es sich bequem. Meine Frau bringt uns gleich Kaffee und etwas Kuchen. Sie backt einen wunderbaren Schokoladenkuchen.« Sie sprachen über das Wetter, dann stellte er ein paar Fragen über den Stand der Dinge in England – er war seit fünf Jahren nicht mehr dort gewesen, da er einen leichten Schlaganfall erlitten hatte und nur noch wenig aus dem Haus ging.
Julia registrierte, daß er die Verbindung zu seinem Land verloren hatte. Er betrachtete seine Frau liebevoll, als sie mit einem Tablett hereinkam. »Ich verschwinde sofort wieder«, beteuerte sie. »Ich habe noch verschiedenes zu erledigen.«
»Nein, nein«, protestierte er. »Bleib hier und sprich mit uns, Darling. Immerhin hast du auch einiges über die Zeit damals zu erzählen.« Er wandte sich an Julia, die direkt neben ihm saß. »Gerda ist in dem Flüchtlingslager gewesen. Wir haben uns dort kennengelernt. Sie kann aus eigener Erfahrung über die damaligen Zustände berichten.«
»Das wäre eine große Hilfe für uns«, versicherte Ben.
Sie unterhielten sich seit etwa einer Stunde, als Julia begann, das Thema Phyllis Lowe anzuschneiden. »Besonders interessiert bin ich an den englischen Frauen, die hier für die UNRRA gearbeitet haben. Mit einigen habe ich schon gesprochen, eine gewisse Phyllis Lowe jedoch ist spurlos verschwunden. Ich weiß, daß sie mit einem Flüchtling namens König befreundet gewesen ist.« Sie betrachtete das Ehepaar forschend. Sie hatten England 1974 verlassen und wußten wahrscheinlich nichts von Kings heutiger Popularität.
Grant sah auf und erwiderte scharf: »Ich kannte Phyllis. Und ich kannte König. Ich habe versucht, sie vor ihm zu warnen, aber sie wollte einfach nicht auf mich hören, nicht wahr, Gerda?«
»Nein«, bekräftigte seine Frau. »Sie war dem Mann völlig verfallen. Ich hatte inzwischen meine Nationalität nachweisen können und arbeitete für Alfred. Millionen von Dokumenten sind während der Bombenangriffe vernichtet worden – meine sind in Frankfurt verlorengegangen. Aber mit Hilfe der Heiratsurkunde meiner Eltern ließen sich meine Angaben zur Person überprüfen. Deshalb bin ich aus dem Lager entlassen worden. König bin ich dort nicht begegnet – es hielten sich Tausende im Lager auf – aber ich habe Phyllis Lowe gekannt. Sie war eine sehr nette Frau …«
»Sie war eine Närrin«, unterbrach Grant seine Frau.
Gerda warf ihm einen strafenden Blick zu. »Sie war verliebt in den Mann«, erläuterte sie. »Wahnsinnig verliebt. Sie hat auf niemanden gehört.«
»Verliebt in König?« staunte Julia. »Hatten sie ein Verhältnis?«
»Natürlich hatten sie«, ereiferte sich Grant. »Und mich haben sie ganz schön zum Narren gehalten. Phyllis war fast vierzig, und er muß um die fünfundzwanzig gewesen sein. Sie hat mir die Geschichte von dem armen Vertriebenen mit traumatischer Vergangenheit auf die Nase gebunden. Eine rührselige Story über einen jungen Mann, der das Haus verlassen mußte, in dem seine Eltern erschossen worden waren, der als Zwangsarbeiter auf einem Hof gearbeitet hatte und wie ein Tier gejagt worden war, als die russische Armee vorrückte. Sie wollte ihn aus dem Lager holen, wollte ihn unterrichten lassen und ihm zu einem neuen Anfang verhelfen. Viele der Vertriebenen haben sich in Europa niedergelassen, sofern sie nicht in die Staaten ausreisen konnten. Ich habe ihr geglaubt. Sie klang so überzeugend, und ich wußte, daß sie sich immer sehr für die Flüchtlinge eingesetzt hatte. Sie war beliebt und wurde für ihre Arbeit respektiert. Deshalb habe ich ihrer Bürgschaft für König zugestimmt und seine Entlassung aus dem Lager empfohlen. Er hatte sich bis dahin unauffällig verhalten und einen anständigen Eindruck erweckt. Respektvoll, sogar ziemlich unterwürfig. Ich habe mehrere Gespräche mit ihm geführt. Er hat mir die gleiche Geschichte erzählt wie Phyllis; und daß er der Frau so viel verdanke, daß sie wie eine Mutter für ihn sei. Bei einer Gelegenheit hat er sogar ein paar Tränen verdrückt, der
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