Die Entlarvung
verstohlenes Lächeln breitete sich auf Bens Gesicht aus. »Du bist eine Optimistin, nicht wahr, J.? Ich denke meistens eher pessimistisch. Wenn du zum Beispiel sagen würdest, die Flasche sei halbvoll, wäre sie in meinen Augen schon halbleer.«
Die Hotelbesitzerin, eine mollige, resolute Frau, begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Guten Morgen! Herr Harris, eben ist ein Fax für Sie angekommen. Hier ist es, bitte sehr.«
Julia stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Bens Schulter zu spähen. Er überflog die Nachricht und wandte sich dann an sie. »Ich sehe, dein Optimismus war angebracht. Major Grant hat ein Mädchen aus der Gegend geheiratet. 1974 ist er in den Ruhestand getreten und lebt seitdem hier in der Nähe. Sie haben uns sogar die Adresse mitgeschickt. Er bezieht übrigens eine Invalidenrente.«
Impulsiv griff Julia nach seinem Arm. »Ben – unser Durchbruch. Wir haben es geschafft! Wo ist er?« Für einen Augenblick hielt Ben ihre Hand fest. Dann machte er sich los und sagte: »In Hintzbach, ungefähr zwanzig Kilometer von hier. Ich rufe ihn an.«
Der Besitzer des größten Supermarktes am Ort war gleichzeitig auch der Vorsitzende des hiesigen Kriegsveteranenvereins. Als junger Mann hatte er bei einer Panzereinheit gedient und war in der Sahara so schwer verwundet worden, daß ihm die russische Front erspart geblieben war. Bei Kriegsende hatte er als ziviler Lagerverwalter für die 101. Division gearbeitet, die den endgültigen Vormarsch der amerikanischen Armee hatte stoppen sollen. Er hatte mit angesehen, wie sein Land untergegangen, die Städte zerstört, die Menschen aus ihren Häusern getrieben worden waren: überall Elend, Hunger und Tod. Seine Kameraden waren in Kriegsgefangenenlagern gelandet, wo die Rationen so knapp bemessen wurden, daß viele einfach verhungert waren. Er selbst war diesem Schicksal entgangen, weil er nach seiner Verwundung, die ihn einen Unterschenkel gekostet hatte, aus der Armee entlassen worden war. In seinem Herzen aber war er Soldat geblieben. Und wenn er sich das neue Deutschland betrachtete, konnte ihm niemand die Überzeugung nehmen, daß Hitlers Niederlage das größte Unglück in der Geschichte seines Landes darstellte. Seine Ansichten hatten sich mit seinem zunehmenden Wohlstand nicht geändert. Er und seine Frau hatten hart gearbeitet und gespart, mit dem Resultat, daß sie heute das Geschäft, ein modernes Wohnhaus mit großem Garten sowie den Respekt der ganzen Gemeinde besaßen. Er war außerdem die Kontaktperson für ehemalige Kameraden, die Hilfe brauchten.
Diese kam von den verschiedensten Seiten – aus den Vereinigten Staaten, wo sich Ehemalige der alten Kameradschaftsbünde immer noch zur Loyalität verpflichtet fühlten, aus Süd- und Mittelamerika, wo Sympathisanten ihr Heimatland nicht vergessen hatten. In den frühen Jahren hatte der Verein seine Mittel dazu genutzt, Kriegsopfern unter die Arme zu greifen. Außerdem wurden Altersheime und Behindertenstätten errichtet. Die Kriegswitwen erhielten Zuschüsse zu den staatlichen Renten. Sein ganz persönlicher Einsatz war dadurch honoriert worden, daß man ihn zum Präsidenten des Verbands in Nessenberg ernannt hatte. Er war sehr stolz auf dieses Amt. Stolzer als auf seinen modernen Supermarkt, der das Ergebnis seiner geschäftlichen Erfolge darstellte.
Dem Vaterland zu dienen betrachtete er als seine oberste Aufgabe – wenn er diese auch nur noch in aller Stille verrichtete. Mit Kummer und Enttäuschung sah er auf seine drei Söhne, die lautstark liberale Einstellungen vertraten und ihm sehr fremd waren. Sie schämten sich für die Vergangenheit, verurteilten Rassismus und lehnten jegliche Form von Militarismus oder Nationalismus strikt ab. Sie standen für die neue deutsche Generation, die der Vater nicht mehr verstehen konnte. Über Politik wurde am Familientisch nicht gesprochen. Er konnte nur hoffen, daß mit der Invasion von Kriminellen und Faulenzern, die als Flüchtlinge getarnt ins Land kamen und den Deutschen Geld und Arbeit nahmen, allmählich auch die Einsicht bei seinen Kindern wuchs, wie falsch sie bisher gedacht hatten. Aber er selbst sagte ihnen nichts mehr. Er hatte seine Freunde und seine Kontakte – das sollte reichen. Nur wenige Personen kannten die Geheimnummer des Telefons in seinem Büro. Er hörte die Nachricht ab, die Minna auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
Minna war der Nachkömmling eines Kollegen, der bei der SS-Panzerdivision im Osten
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