Die Entlarvung
gedient hatte. Er hatte zu einer Kampfeinheit gehört – nicht zu den Lageraufsehern und den Todesschwadronen, auf denen die Medien so herumritten. Jedes Land hatte seine schwarzen Schafe. Und Grausamkeit gehörte nun einmal zum Krieg. Er hatte eine mentale Barriere gegen die unangenehmeren Aspekte der deutschen Geschichte errichtet. Die Konzentrationslager mochte es gegeben haben, aber die Berichte über sie waren mit Sicherheit übertrieben. Auch die Anzahl der Toten wurde mittlerweile gehörig in Zweifel gezogen. Minna war ganz die Tochter ihres Vaters. Sie teilte seine Ideale sowie seine Vorstellungen von Pflicht und Loyalität. Vor vielen, vielen Jahren hatte ihn ein Mann besucht. Ein Kamerad, der ebenfalls in der Wüste gekämpft hatte. Er vertrat andere Ex-Soldaten, die kurz vor Kriegsende desertiert waren und sich in den Flüchtlingslagern bei Nessenberg versteckt hatten. Ihre Alternative wäre der wahrscheinliche Hungertod in der Kriegsgefangenschaft gewesen.
Die heimatlosen Flüchtlinge erhielten Nahrung und medizinische Versorgung. Sie waren diejenigen, denen es während dieser schlimmen Zeit am besten ging. Der Mann bat ihn, die Kameraden zu schützen, die sich in die Lager eingeschlichen hatten.
Im Verlauf der Jahre hatte es immer wieder Schnüffler gegeben, die in den Akten herumspionierten. Er hatte dafür gesorgt, daß alle belastenden Unterlagen beseitigt wurden. Lediglich ein, zwei Dokumente waren – wie angeordnet – zurückgelassen worden. Und nun waren die Schnüffler zurückgekehrt. Sie interessierten sich für die gleiche Akte – die Akte der Kontrollkommission von 1948/49. Er erinnerte sich noch allzugut an jene wohlgenährten britischen Offiziere, die damals die Untersuchungen gegen sogenannte Kriegsverbrecher und Deserteure geleitet hatten. Er haßte sie immer noch, obwohl die Untersuchungen längst abgeschlossen waren.
Aber nun waren diese beiden Engländer aufgetaucht. Minna hatte sich ihre Namen notiert. Er beschloß, Minna anzurufen und sich ein wenig genauer zu informieren, bevor er seine Pflicht erfüllen würde.
Und so einen kleinen Teil der Schuld begleichen könnte, die er auf sich genommen hatte, als er eine großzügige Spende für den Verein akzeptiert hatte.
Auf der Fahrt nach Hintzbach bekamen Julia und Ben einen Teil der idyllischen bayrischen Landschaft zu Gesicht. Auch der Ort selbst war ein Bilderbuchdorf mit holzverkleideten Häusern und engen Straßen. Alles blitzte vor Sauberkeit und Ordnung. In den Kneipen und Cafés tummelten sich Einheimische und Besucher, denn es war gerade Mittagszeit, und die Geschäfte hatten geschlossen. Das Haus, nach dem sie suchten, lag direkt neben einer Weinhandlung. Auf den Fensterbänken standen kleine Kästen, in denen farbenprächtige Blumen blühten. An der Hauswand prangte ein grellbuntes Schild, das die Aufschrift ›Rooks Nest‹ trug.
Sie parkten in einer kleinen Seitenstraße – auf der Hauptstraße war das Parken verboten – und betraten Major Grants Grundstück. Ben hatte mit seiner Frau telefoniert. Der Major fühle sich gesundheitlich nicht ganz wohl, hatte Mrs. Grant erklärt, aber sie würde ihren Mann fragen, ob er die Besucher empfangen könne. Wer ihn denn zu sehen wünsche? Er sei ein Autor, hatte Ben erklärt, der ein Buch über die Flüchtlingsarbeit der Kontrollkommission schreiben wolle. Sie würden nicht lange bleiben, wären aber sehr dankbar für ein kurzes Interview.
Mrs. Grant öffnete ihnen die Tür. Die Besucher standen einer schmalen Frau gegenüber, deren dunkles Haar von einigen Silbersträhnen durchzogen wurde. Sie sah immer noch gut aus, obwohl sie bestimmt schon die Siebzig überschritten hatte. Sie trug eine Bluse mit frisch gestärktem Rüschenkragen und hatte sich eine geblümte Schürze umgebunden.
»Ich bin Mr. Harris«, stellte Ben sich vor. »Und dies ist Miss Hamilton.«
»Kommen Sie bitte herein.« Der Flur war eng und dunkel und roch nach Möbelpolitur. »Mein Mann freut sich sehr, Sie zu sehen.« Sie hatte ein charmantes Lächeln. »Aber er ermüdet schnell. Er ist hier in diesem Zimmer. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder ein Glas Bier vielleicht?«
»Kaffee, bitte«, erwiderte Julia. Der Raum war offensichtlich das ehemalige Wohnzimmer, das man in ein Schlafzimmer umgewandelt hatte. Major Grant saß in einem bequemen Sessel. Seine Beine waren in eine Wolldecke eingewickelt. Im Kamin brannte ein Feuer.
Ben schritt auf Grant zu und gab ihm die Hand. Julia
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