Die Entlarvung
können, ist sie nach dem Krieg der UNRRA beigetreten und aufs europäische Festland gegangen, um sich der Flüchtlinge und der Verschleppten anzunehmen. Wissen Sie, Miss Hamilton, sie hat sich damals sehr verändert.«
»Das wundert mich nicht«, entgegnete Julia. »Sie muß Schreckliches erlebt haben.«
»Ja, sie hat so viel Leiden, Kummer, Zerstörung gesehen. In langen Briefen hat sie uns von ihren Erfahrungen berichtet. Sie konnte sehr gut schreiben, und wir haben uns immer sehr nahe gestanden. Ich habe sie bewundert. Ich fand sie so aufregend, so überwältigend.« Jean Adams lächelte wehmütig. »Ich wünschte, ich hätte mich während des Krieges auch nützlich machen können, aber ich war zu jung. Tante Phyl war wirklich betroffen von den Zuständen, die in diesen Lagern herrschten. Sie hat sich mit ganzem Herzen für die Menschen dort eingesetzt und versucht zu helfen, wo sie nur konnte. 1947 ist sie auf einen Besuch nach England gekommen. Wir haben uns in London getroffen, wo ich als Sekretärin arbeitete. Ich hatte mich damals gerade mit Bob, meinem Mann, verlobt. Ich erinnere mich noch, wie sie zu mir gesagt hat: ›Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine richtige Aufgabe, Jean, eine, die es wert ist, daß man sie ausführt. Es ist nicht wieder einfach nur ein Zeitvertreib. Ich helfe Menschen, die alles verloren haben – ihre Familien, ihre Heimat, ihre Hoffnung …‹ Dann hat sie gelacht und hinzugefügt: ›Wenn ich nicht aufpasse, wird aus mir noch eine richtig vernünftige Person. Das muß natürlich verhindert werden.‹ Sie war ein wundervoller Mensch. Haben Sie schon einmal jemanden gehaßt?«
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Sie Glückliche. Es ist kein schönes Gefühl. Seit vierzig Jahren hasse ich Hans König für das, was er meiner Tante angetan hat. Für mich ist und bleibt er Hans König. Ich denke nie unter dem Namen Harold King an ihn. Tante Phyl hat mir von ihm geschrieben. Es war kurz vor meiner Hochzeit. Sie hatte leider nicht freinehmen können, um daran teilzunehmen. In ihren Briefen stand, daß sie diesen wundervollen jungen Mann kennengelernt habe – er sei so sensibel, intelligent und ganz allein. Seine Familie wäre umgekommen, er habe auf einem Hof in Ostdeutschland Zwangsarbeit verrichten müssen und leide offenbar immer noch unter seinen traumatischen Erlebnissen. Er könne sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Dann änderte sich der Ton der Briefe.« Jean wandte den Blick von Julia ab. Es fiel ihr offensichtlich schwer, über die folgenden Ereignisse zu sprechen.
»Sie hat mir geschrieben, daß sie sich verliebt habe. Richtig verliebt, zum ersten Mal. Der Altersunterschied würde keine Rolle spielen. Der Mann brauchte sie, und er sei so dankbar, so liebevoll. Ich habe nur gedacht, das kann nicht wahr sein – das ist nicht Tante Phyl. Die ganze Geschichte klang wie aus einem schlechten Roman. Ich war aber damals so sehr mit meiner eigenen Hochzeit beschäftigt, daß ich mich nicht weiter darum gekümmert habe. Meine Mutter hat sich ebenfalls keine Gedanken gemacht. ›Oh, das ist nur eine von Phyls Launen. Der Mann wird sie ebenso schnell ermüden wie alle anderen vorher auch.‹ Ich glaube, Mutter war ein wenig neidisch auf ihre Schwester. Sie sah weder so gut aus wie Tante Phyl, noch hatte sie ihren Charme. Dann kehrte meine Tante nach England zurück und lud uns nach Fulham ein, um uns den Mann vorzustellen. Sie hatte ihn geheiratet. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Einen melancholischen Slawen mit traurigen Augen, vielleicht. Aber er war völlig anders. Arrogant. Ja, arrogant und selbstzufrieden. Und sehr männlich. Ich denke, daß seine physische Ausstrahlung meine Tante so angezogen hat. Sie war völlig vernarrt in ihn und hat sich wie ein albernes junges Mädchen benommen. Er mochte weder Bob noch mich – die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Nach der Begegnung hat Bob zu mir gesagt: ›Ich glaube, deine arme Tante steckt ganz schön in Schwierigkeiten‹. Ich war derselben Ansicht. Danach habe ich sie nur noch ein paarmal gesehen. Es ging erschreckend schnell bergab mit ihr. Sie hatte immer gern ein Gläschen getrunken, der Alkohol war aber vorher nie ein Problem gewesen. Als sie uns einmal an einem Sonntag besucht hat, war sie jedoch schon gegen Mittag betrunken. Ihren Mann hatte sie natürlich mitgebracht. Die Stimmung war fürchterlich, ich werde diesen Tag nie vergessen. Er hat sie unmöglich behandelt, war so feindselig zu ihr.
Weitere Kostenlose Bücher