Die Entlarvung
Und meine Tante sah miserabel aus.« Jean hielt inne. Selbst nach all diesen Jahren machte ihr die Erinnerung noch zu schaffen.
»Wann haben Sie Ihre Tante wiedergesehen?« fragte Julia.
»Ungefähr zehn Tage vor ihrem Unfall. Sie hat mich angerufen und mich gebeten, nach London zu kommen. Sie wollte mich dringend sprechen. Sie klang sehr merkwürdig. Wir haben uns also in London getroffen, wo sie mir diese höchst ungewöhnliche Geschichte erzählt hat.« Jean wartete einen Moment, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr.
»König«, begann sie und räusperte sich, »König hat nie getrunken. Er hat nichts Alkoholisches angerührt, nicht einmal Bier. Er hat es von Anfang an nicht gern gesehen, daß meine Tante sich hin und wieder einen Drink genehmigte. Sie hat sich erst über seine Fürsorge gefreut, konnte aber nicht ganz verstehen, was am Ende eines langen Tages gegen einen kleinen Gin-Tonic einzuwenden war … Allerdings hat sie, als sich das Verhältnis kontinuierlich verschlechterte, immer öfter zur Flasche gegriffen.
Ihre Trinkerei hat König zum Wahnsinn getrieben. Er hat sie oft geschlagen – nicht ins Gesicht, wo es vielleicht aufgefallen wäre. Er hat sie manchmal grün und blau geprügelt. Eines Nachts ist er dann spazierengegangen – er verschwand oft für Stunden, ohne zu sagen, wohin er ging. Als er sie bei seiner Rückkehr betrunken vorfand, geschah etwas Außergewöhnliches. Er goß sich ein großes Glas Gin ein. Meine Tante konnte es erst nicht fassen. Er baute sich vor ihr auf und schrie: ›So, du betrunkene alte Kuh, jetzt werde ich dir zeigen, wie du bist. Ich werde lallen, herumtorkeln und so nach Gin stinken wie du. Ich werde zu betrunken sein, um dich vögeln zu können, du alte Schachtel. Das wird dir ganz und gar nicht gefallen.‹ Er hat ihr anscheinend eine furchtbare Szene gemacht. Meine Tante mußte weinen, als sie mir Wort für Wort seine Beleidigungen wiederholte. Und er hat damals seine Drohung wahrgemacht – er hat sich besinnungslos betrunken. Meine Tante hatte solche Angst vor ihm, daß sie schlagartig wieder nüchtern wurde. Er hat sich wie ein Verrückter aufgeführt. Und ihr die Wahrheit über sich erzählt.
Er war weder Pole noch Flüchtling, sondern hat als deutscher Soldat im Wüstenkrieg gekämpft. Dort hat er – nach eigener Aussage – eine Gruppe britischer Kriegsgefangener kaltblütig erschossen, obwohl die Männer sich ergeben hatten!«
Julia mußte erst einmal schlucken. »Das hat er gesagt? Mein Gott – dann ist er ja ein Mörder.«
»Ja«, bestätigte Jean Adams. »Ein Mörder. So hat meine Tante es mir erzählt. Er hat sich mit seiner Tat gebrüstet, war ungeheuer stolz auf sich. Er glaubte fest, alle Männer getötet zu haben; einer der Soldaten überlebte jedoch. König hat dies erst später erfahren. Meine Tante hat er angeschrien und sich über sein ›Versagen‹ aufgeregt. Er sei dann desertiert, habe sich unter die Flüchtlinge gemischt und sich die ganze rührselige Geschichte ausgedacht. Meine Tante hat gezittert, als sie davon gesprochen hat. Ich habe versucht, sie zu beruhigen, und ihr gesagt, daß er in seinem Rausch vielleicht nur irgendeine fantastische Geschichte erfunden habe. Daran wollte sie jedoch nicht glauben.« Jean senkte die Augen und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Sie hat mir außerdem erzählt, daß er sie in dieser Nacht vergewaltigt hat.«
Julia schwieg und wartete, bis Jean weitersprechen konnte.
»Am nächsten Morgen hat er natürlich alles abgestritten und dem Alkohol die Schuld gegeben. Er soll sie angefleht haben, ihm zu verzeihen. Sogar ein paar Tränen muß er vergossen haben. Meine arme Tante hätte ihm so gerne geglaubt. Aber es gelang ihr nicht. Bei unserem Treffen wirkte sie völlig gebrochen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit hängenden Schultern dasaß und kaum noch Lebenswillen zu besitzen schien. ›Mein Geld soll er nicht bekommen‹, hat sie mir gesagt. ›Ich gehe heute noch zu meinem Anwalt und ändere mein Testament.‹ Zehn Tage später ereignete sich der Unfall. Inzwischen hatte ich eine Kopie des Testaments zugeschickt bekommen, in dem sie mir ihr ganzes Vermögen vermachte. Auf diese Weise war es mir möglich, uns den Mann vom Hals zu schaffen. Zusammen mit dem Anwalt meiner Tante haben Bob und ich ihn zur Rede gestellt, als meine Tante aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Wir haben ihm klargemacht, daß wir die Pflegschaft für meine Tante übernehmen würden, und haben ihm die
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