Die Entscheidung
geradeaus, während er sich immer wieder die gleichen Fragen stellte. Anna Rielly war seit der Collegezeit die beste Freundin seiner Frau, und er hatte sie wirklich gern. Als sie vergangenen Frühling erfahren hatten, dass Anna zur NBC-Korrespondentin für das Weiße Haus ernannt worden war, hatten sie sich riesig für sie gefreut. Die Freude hatte nicht einmal eine Woche angedauert.
An ihrem ersten Arbeitstag war Anna Rielly in einen Terroranschlag verwickelt worden, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Die Terroristen hatten über hundert Geiseln in ihrer Gewalt – und die Pattsituation wurde erst beendet, als das Hostage Rescue Team des FBI die Angreifer überwältigte; zumindest war das die Version, die man in den Zeitungen lesen konnte.
Als Mitglied des Geheimdienstausschusses im Abgeordnetenhaus hatte O’Rourke Zugang zu Informationen, an die auch im Kongress nur wenige herankamen. Die offizielle Position des Weißen Hauses war, dass das SEAL Team 6 und andere Anti-Terror-Einheiten lediglich eine beratende Rolle in dem Geiseldrama gespielt hätten. Hinter den »anderen Einheiten« verbarg sich die Delta Force – die streng geheime Special-Forces-Einheit der Army. Das Pentagon weigerte sich immer noch zuzugeben, dass es diese Einheit überhaupt gab, obwohl darüber schon eine ganze Reihe von Büchern geschrieben und Dokumentationen gedreht worden waren. O’Rourke wusste, dass die Special Forces des Pentagon weitaus mehr getan hatten, als nur eine beratende Rolle zu übernehmen. Sie waren aktiv an der Erstürmung des Weißen Hauses beteiligt gewesen, wobei die SEALs sogar zwei ihrer Leute verloren hatten. Um zu verhindern, dass die rechten Betonköpfe durchdrehten, schrieb man allein dem HRT des FBI die erfolgreiche Operation zu.
Während O’Rourke seine Gedanken zu diesen dramatischen Ereignissen zurückschweifen ließ, fiel ihm ein, dass er und seine Frau kurz darauf Anna Riellys neuen Freund kennen gelernt hatten. Zuerst war O’Rourke nichts Außergewöhnliches an ihm aufgefallen, doch nachdem sie sich einige Male getroffen hatten, bemerkte er, dass Annas Freund immer irgendwelche weniger bekannten Restaurants vorschlug, wenn sie sich zum Essen trafen. Außerdem setzte er sich immer so, dass er die Tür im Blick hatte. Wenn dies einmal nicht möglich war, drehte er sich jedes Mal um, wenn neue Gäste das Restaurant betraten. Seine Augen waren stets wachsam – er schien alles wahrzunehmen, was um ihn herum passierte. Als ehemaliger U.S. Marine hatte O’Rourke ein Auge für so etwas – und er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob Annas Freund vielleicht ein Geheimagent war. Er hatte eine kleine Firma, für die er oft im Ausland unterwegs war – in Europa ebenso wie im Nahen und Mittleren Osten. Seine Eltern lebten nicht mehr, und er schien außer zu Anna keine engeren Beziehungen zu irgendwem in seiner Umgebung zu pflegen.
Ein scheinbar unbedeutendes Ereignis Ende August überzeugte O’Rourke schließlich, dass Mitch Rapp viel mehr sein musste als nur der Chef einer Computer-Beratungsfirma. Er und seine Frau waren zusammen mit Anna und Mitch zu einem Spiel der Baltimore Orioles gegangen, wo sie eine interessante Begegnung hatten, die für O’Rourke wie ein Gruß aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt war; der Mann, den sie trafen, hieß Scott Coleman und war ein ehemaliger Lieutenant Commander von SEAL Team 6; mit Coleman verbanden O’Rourke bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit, die er liebend gern aus seinem Gedächtnis getilgt hätte.
O’Rourke hatte etwas in den Augen der beiden Männer gesehen, als sie einander vorgestellt wurden. Coleman, den O’Rourke als einen absolut unerschütterlichen Mann kannte, hatte einen Moment lang dreingeblickt, als sähe er ein Gespenst. Er fing sich rasch wieder – doch der entgeisterte Blick war O’Rourke dennoch nicht entgangen. Rapp ließ sich natürlich überhaupt nichts anmerken – nicht das geringste Anzeichen, dass zwischen ihm und dem ehemaligen SEAL irgendeine Verbindung bestand. Doch Coleman hatte erkennen lassen, dass er den Mann kannte.
O’Rourke hatte kein Wort darüber zu seiner Frau gesagt, und er hatte auch nichts unternommen, um sich Gewissheit zu verschaffen. Als Mitglied des Geheimdienstausschusses wusste er, dass es ungewollte Aufmerksamkeit erregt hätte, wenn man anfing, über solche Leute Fragen zu stellen – und O’Rourke zog es vor, nicht zu sehr aufzufallen; er hatte selbst das eine oder andere Geheimnis
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